Diskussion, Debatte oder Streit?
Journalismus, December 02, 2023
Mit dem rasanten Aufkommen der sozialen Netzwerke wird nicht nur über deren Vorteile des gemeinsamen Kommunizierens diskutiert, sondern zunehmend über die zersetzende Kraft der darin enthaltenen Aggression, Negativität und Streitlust. Die entsprechende Streitkultur der sozialen Medien zeichnet sich dadurch aus, dass sie allzu häufig einseitige und populistische Positionen in einer Sprache verbreiten, die sich der Mittel persönlicher Beleidigung, Schmähkritik und Hetze bedient. Von zivilisierten Diskussionen und Debatten kann in solchen Fällen kaum die Rede sein. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen1 sieht diese Entwicklung sehr kritisch und spricht vom Gesellschaftsphänomen einer „großen Gereiztheit“. Da das öffentliche Augenmerk vorwiegend auf den emotional aufgeladenem Kommunikationsstil der sozialen Netzwerke gerichtet wird, genießt der professionelle Journalismus in dieser Hinsicht weniger Aufmerksamkeit. Obwohl das Ausmaß tendenzieller Berichterstattung und Analysen in Print und Rundfunk im Vergleich zu den sozialen Netzwerken deutliche Unterschiede aufweist, ist nicht zu übersehen, dass auch Politik, Journalismus und Publizistik ähnliche Muster und Motive der Aufmerksamkeitsökonomie aufweisen. Egal, ob in privaten oder öffentlichen Medienanstalten, für sie gelten vergleichbar mit der Wirtschaft dieselben Gesetzmäßigkeiten des Wettbewerbs und Konkurrenzdenkens. Daher sind Einseitigkeit, Übertreibung und Herdenverhalten nicht nur in den sozialen Netzwerken zu beobachten, sondern in geringerem Umfang auch Bestandteil der „seriösen Medien“.
Streit und Streiten
Vor diesem Hintergrund erscheint es einerseits bemerkenswert, andererseits auch verständlich, dass aus den Medien und zum Teil aus der Politikwissenschaft immer wieder mehr Streit und die Verstärkung einer Streitkultur gefordert werden. So verlangt zum Beispiel die Politologin Andrea Römmele2 eine Erneuerung der Streitkultur in Politik und Gesellschaft. Zu den medialen Verfechtern dieser Position bekennen sich auch Journalisten, wie etwa die Fernsehmoderatoren Markus Lanz und Michel Friedmann oder die Journalistin Susanne Schnabl3. Hier fragt sich, warum Akademiker und Intellektuelle den aggressiv konfrontativen und vielfältig auslegbaren Begriff des Streits wählen, wenn eine Auswahl alternativer Ausdrucksformen der verbalen und schriftlichen Auseinandersetzung zur Verfügung steht. Benötigt die aktuelle Weltlage, geprägt vielfach durch Polarisierung und Konflikt, mehr streitbare Konfrontation? Über die Gründe, warum Forderungen nach mehr Streit besonders aus den Reihen des Journalismus stammen, kann nur spekuliert werden. Das offensichtliche Argument lautet, dass der politische Streit, die Kontroverse und der Skandal wichtige Grundlagen der Medienarbeit liefern. Um diese These zu erörtern, bedarf es zunächst der Klärung und Kontextualisierung der sprachlichen Kommunikationsformen, von denen der Streit nur eine Variante von mehreren ausmacht.
Nach Angaben des Dudens bedeutet der Streit: „1. Heftiges sich auseinandersetzen, Zanken [mit einem persönlichen Gegner] in oft erregten Erörterungen, hitzigen Wortwechseln, oft auch in Handgreiflichkeiten; 2. Waffengang, Kampf“. Das Verb streiten bedeutet daher „mit jemandem Streit haben, in Streit geraten“. Aus diesen offiziellen Definitionen ergeben sich drei wesentliche Charakteristika des Streits: Zunächst basiert er auf abweichenden und gegensätzlichen Positionen oder Verhaltensweisen, über deren Richtigkeit gerungen und gezankt wird. Streit bedeutet stets Konfrontation. Zweitens zeichnet sich Streiten dadurch aus, dass Konflikte auf emotionale, lautstarke und oft auf irrationale Weise geführt werden. Daher spielen drittens in solchen Situationen die Tugenden des Zuhörens, der Reflektion, Toleranz und die Fähigkeit, mit sachlich begründeten Argumentation und fundierter Kritik zu überzeugen, kaum eine Rolle. Zum Vergleich bedeuten dem Collins Dictionary zufolge englische Synonyme für Streit: Row, Quarrel, Fight, Dispute oder Noisy Argument. Sie haben nichts mit einer gemäßigten und zivilisierten Auseinandersetzung gemein.
Obwohl der Streit und das Streiten durchaus zum menschlichen Wesen gehört, ist es dienlich, zwischen persönlichen und juristischen Streitigkeiten einerseits und der öffentlichen Auseinandersetzung andererseits zu unterscheiden. Hier ist beispielsweise zu beobachten, dass auf persönlicher Ebene eine hitzige Diskussion auch umgangssprachlich als Streitgespräch bezeichnet wird. Da sich die genannten Forderungen einer stärkeren Streitkultur jedoch ausschließlich auf den Kontext der Politik, des Journalismus und der Gesellschaft als Ganzes beziehen, werden wir uns im Folgenden nur auf die Öffentlichkeit konzentrieren. Das Konzept der Öffentlichkeit ist insofern von Bedeutung, als es die politischen Prozesse anspricht, die zur Meinungsbildung und zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen. Besonders die Philosophen Hannah Arendt und Jürgen Habermas befassten sich ernsthaft mit diesem Thema und beschrieben das Ideal eines uneingeschränkten, informierten und engagierten Austauschs unter Bürgern und in der Politik, wobei die freie Presse eine unterstützende Funktion einzunehmen habe. Die Gewährleistung der Beteiligung aller Bürger an diesem zivilgesellschaftlichen Austausch stelle neben der Möglichkeit, an parlamentarischen Wahlen teilzunehmen, eine notwenige Bedingung für die Funktionsfähigkeit und Stabilität einer liberalen Demokratie dar.
Gespräch, Dialog und Diskussion
Die Bedeutsamkeit der öffentlichen Kommunikation wirft nun die Frage auf, welche Begrifflichkeiten als Alternative zum Streit in Frage kommen und inwiefern sie dem Konzept der Öffentlichkeit gerecht werden. Um dies zu klären ist es hilfreich, zwischen zwei Arten des Austauschs zu unterscheiden. Zur informellen Gestaltungsform zählt zunächst das Format des Gesprächs, das in den Medien meist als persönliches Interview präsentiert wird und nicht mit dem Begriff des Streitgesprächs verwechselt werden darf. Abhängig von der Qualität des Fragenden, bieten derartige Gespräche und Dialoge über den positiven Unterhaltungswert hinaus meist einen inhaltlichen Erkenntnisgewinn. Ein gutes Interview beruht darauf, dem Publikum die Standpunkte und Motive des Gastes näher zu bringen. Dies gelingt nur, wenn sich die Beteiligten eines ruhigen und zivilisierten Sprachstils bedienen, der auf Zuhören, Toleranz und Sympathie beruht. In einem konstruktiven Dialog geht es nicht darum, Streit zu suchen und sich als Interviewer mit Provokationen zu profilieren, um den Gast zu verunsichern oder gar zu demütigen. Wenn derartige Gespräche zum Spektakel mutieren, haben wir es bestenfalls mit sensationsgetriebener Unterhaltung zu tun und im schlimmsten Fall trägt der aggressive Stil zu Entwicklungen einer Verrohung der Gesprächskultur und Polarisierung in der Gesellschaft bei.
Zur informellen Form des Austausches zählt auch die Diskussion. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass meist mehrere Personen an Gesprächsrunden teilnehmen. Auch hier spielt das Fernsehen eine tragende Rolle, dessen Sendungen neben einigen seriösen Diskussionen weitgehend von den politischen Talkshows dominiert werden. Diesbezüglich gilt die Faustregel: Je mehr Studiogäste beteiligt sind, desto diffuser und oberflächlicher fällt der Inhalt und das Niveau der Diskussion aus. Pluralität im Sinne einer Fülle einseitiger Meinungen, die oft nicht begründet werden, führt nicht automatisch zu neuen Erkenntnissen. Das trifft in besonderem Maße auf vermeintliche Experten zu, wenn sie wegen ihrer extremen Positionen eingeladen werden und für Kontroverse sorgen sollen. In öffentlichen Diskussionen beklagt der Journalist Oliver Georgi4 den verbreiteten Gebrauch von Schlagwörtern, Floskeln und Phrasen, die nur einen geringen Informationsgehalt aufweisen. Diskussionen können durchaus leidenschaftlich ausgetragen werden, doch im Gegensatz zu einer Streitkultur fordert er besonders von Politikern mehr Klartext und eine verständlichere Sprache. Auch der Kommunikationsberater Stefan Wagner5 beklagt erhebliche Mängel in der Qualität öffentlicher Diskussionen und begründet sein negatives Urteil mit dem erweiterten Konzept des Scripts. Es bezeichnet einseitige Narrative, die über die gängigen Begriffe Fake Facts oder Fake News hinaus ein eigenes Kommunikationsproblem darstellen. Bei den Scripts handelt es sich nicht unbedingt um Lügen, sondern um die Verbreitung verzerrter Darstellungen, Mythen und Halbwahrheiten. Das Format des TV-Polittalks wirft daher unweigerlich kritische Fragen auf, denn es fußt weniger auf den Prinzipien rationaler Argumentations- und Kritikführung als vielmehr auf Selbstdarstellung, Streit und Spektakel. Es ist ungewiss, in welchem Maße die politische Talkshow tatsächlich der Gesellschaft, Demokratie und dem sozialen Zusammenhalt einen konstruktiven Dienst erweist.
Debatten und Debattenkultur
Die öffentliche Debatte fällt unter die Rubrik der formellen Kommunikationsform und weist im Vergleich zur Diskussion mit mehreren Teilnehmenden einen wichtigen Unterschied auf. Während aus Diskussionen nicht zwangsläufig Ergebnisse oder Lösungen zu erwarten sind, trifft dies nicht auf das Konzept der Debatte zu. Besonders in politischen Kontexten, etwa im Parlament, dient die Debatte als Vorbereitung und Grundlage für eine abschließende Abstimmung und Entscheidung. Debatten basieren auf der Ausführung meist entgegengesetzter Positionen. Dies wird besonders im englischen Parlament deutlich, in dem sich die Parteien der Regierung und Opposition gegenübersitzen und somit die konfrontative Natur der politischen Auseinandersetzung betonen. Dennoch gelten nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den meisten Parlamenten liberaler Demokratien formelle und normative Vorschriften der verbalen Beteiligung. So darf der Abgeordnete in der Regel nur für eine begrenzte Zeit das Wort ergreifen, damit genügend Stimmen aus allen Lagern gehört werden können. Darüber hinaus gelten formale Regeln des Anstands. Trotz lebendiger Auseinandersetzungen sind Redner angehalten, einen zivilisierten Sprachstil zu wahren, der Beleidigungen und Schmähkritik untersagt. Diesbezüglich beklagte die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, dass sie mit dem aktuellen Anstieg der Ordnungsrufe eine Verrohung der Sprache und Debattenführung im Bundestag wahrnehme, die das Vertrauen der Menschen in die demokratischen Prozesse beschädige. Während Verwarnungen im Bundestag ohne Konsequenzen bleiben, wird dagegen im britischen Parlament die Bezeichnung eines anderen Abgeordneten als Lügner mit einem zweiwöchigen Ausschluss aus den Sitzungen bestraft. Zweifellos finden oft lebendige und konfrontative Auseinandersetzung in Plenarsälen statt, doch auch dann spricht man nicht von parlamentarischem Streit, sondern von parlamentarischer Debatte.
Der Begriff der Debatte ist aus einem zusätzlichen Grund von gesellschaftspolitischer Bedeutung, da sich daraus das Konzept einer gelebten Debattenkultur ableitet. Es basiert auf den Prinzipien der Aufklärung und den persönlichen Fähigkeiten einer faktenbasierten, begründeten und dadurch überzeugenden Arguments- und Kritikführung6. Kritik beruht nicht nur auf Toleranz unterschiedlicher Positionen, sondern ist auch mit dem Wort Kriterium verwand und erfordert das Heranziehen relevanter Gründe und Kontexte. Zur den Bedingungen einer konstruktiven Debatte gehört daher, kritikoffen zu sein und sich von logisch-fachkundigen Argumenten überzeugen zu lassen. Sollten Debatten dagegen in ein emotionales und hitziges Wortgefecht ausarten, haben wir es mit Streit zu tun. Wer demzufolge eine vernünftige Debattenkultur fordert, könnte sich an der entsprechenden Praxis in den Debating Societies Großbritanniens oder an der deutschen Version des Vereins der Debating Society Germany e.V. orientieren. In ihren lebendigen Debatten werden gegensätzliche Standpunkte mit überzeugender Argumentation und auf einem entsprechend hohem Niveau vorgetragen und ausdiskutiert. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, ein paar weitere Aspekte zur Einordnung der Qualität öffentlicher Debatten zu erwähnen.
Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn7 unterscheidet zwischen den Inhalten einer Debatte und dem rhetorischen Stil der daran Teilnehmenden. Es zähle nicht nur was gesagt wird, sondern auch wie und mit welchen Mitteln. Daraus leitet Zorn die Charakterisierungen des Dogmatikers und Populisten ab, die unter Einsatz von Schwarz-Weiß-Malerei, Feindbildern und aufrührerischer Verschwörungstheorien versuchen, Menschen zu manipulieren und zu verunsichern. Der Demokrat oder demokratisch Denkende akzeptiert dagegen unterschiedliche Positionen, er verschreibt sich nicht apodiktischen Vorstellungen und pflegt im Gegensatz zum Populisten einen konstruktiven Argumentations- und Kritikstil. Obwohl Zorns Forderung eines sachlichen Kommunikationsstils zunächst auf Politiker anwendbar ist, trifft seine „Logik für Demokraten“ auf alle Gesellschaftbereiche zu, inklusive den Journalismus.
Der zweite Aspekt, der den öffentlichen Diskurs aktuell beeinflusst, bezieht sich auf die Beobachtung, dass in der medialen Einordnung gesellschaftspolitischer Ereignisse der Kommentar zunehmend durch persönliche Meinung ersetzt wird. Die Rundfunkanstalt ARD hat diesen Begriffswandel formell vollzogen. Um diesen Schritt einzuordnen, lässt sich der Duden heranziehen, denn er beschreibt den Kommentar als „Erläuterung und kritische Stellungnahme“ aber auch „persönliche Anmerkung“. Obwohl der Kommentar subjektive Bemerkungen und Erfahrungen nicht ausschließt, grenzt er sich von persönlichen Äußerungen und dem Konzept der Meinung ab. Der Kommentar oder die Analyse wird generell mit Sachlichkeit assoziiert, während die persönliche Ansicht oder Meinung mehr Subjektivität, Emotionalität und Feindseligkeit enthalten kann. Diesen Unterschied ansprechend, brachte der Blogger Rezo das zentrale Problem auf den Punkt: Es sei einfach eine Meinung zu äußern, es bedarf jedoch vieler Arbeit und Erfahrung, um einen sachlichen Kommentar abzugeben. Abgesehen davon, dass sich zumindest Journalisten der ARD mit Ihrer Meinungsäußerung das Leben einfacher machen, sorgt der Wandel hin zu mehr Subjektivität für ein breiteres Phänomen. Der Diskussions- und Debattenstil wird zunehmend moralischer, wenn nicht sogar moralisierender. Es ist dieser Ton, der zu Polarisierung, Intoleranz, Streit und Fragmentierung in der Gesellschaft beiträgt.
Zu konstruktiven Debatten gehört oft die „Ja, aber“ Formulierung. Sie ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. In komplexen Gemengelagen kann das „Ja“ bedeuten, dass sich Diskutanten über gewisse Aspekte einig sind und dennoch in anderen Bereichen abweichende Positionen vertreten. In diesem Falle verkörpert das „Ja“ eine Haltung des Respekts und trägt dazu bei, dass Diskussionen sachlich bleiben und nicht in polemische Schlagabtausche ausarten. Sollte sich das „Ja“ auf die gemeinsame Ablehnung einer kritischen Lage beziehen, entspricht das „aber“ keineswegs einer normativen Relativierung. In der Regel handelt es sich um den Versuch, auf Ursachen und Kontexte einzugehen, um daraus Lösungen ableiten zu können. Trotz wertebezogener Zurückweisung von Missständen und Krisen kann daher eine rationale Auseinandersetzung nur dann stattfinden, wenn die entsprechenden Probleme realitätsnah eingeordnet und bewertet werden. Der gelegentliche Vorwurf, eine differenzierte Diskussionshaltung zu Problemen ließe sich als Apologie oder Rechtfertigung einstufen, ist meist fehlgeleitet und kontraproduktiv. Der Gebrauch moralisch gefärbter Totschlagargumente sorgt in der Regel dafür, vernünftige Debatten zu verhindern.
Der letzte Aspekt, der im Zusammenhang mit Streitkultur zu nennen ist, bezieht sich auf den Ausdrucksstil der Konfrontation, der sich gegebenenfalls in Widerstand und Protest äußern kann. Dieser Sachverhalt ist zwar von Bedeutung, er widerspricht jedoch nicht dem demokratischen Grundgedanken, Konflikte in vernünftigen Diskussionen zu erörtern. In Debatten geht es selten um rein binäre Gegensätze, sondern um das Austarieren von Grauzonen und Gemeinsamkeiten. Streit und Zoff widersprechen daher der gesellschaftlichen Notwendigkeit, auf friedliche Weise Kompromisse oder Konsens zu finden. Diesbezüglich beklagt die Journalistin Yasmine M’Barek8 eine „radikale Kompromisslosigkeit“ in Politik und Gesellschaft. Im Umkehrschluss fordert sie eine entsprechend radikale Kompromissbereitschaft, um die aktuellen Probleme, insbesondere den Umgang mit dem Klimawandel, in der politischen Mitte zu bewältigen. Streiten auf politischer, journalistischer und zivilgesellschaftlicher Ebene dient der Spaltung und verhindert konstruktive Kompromisse.
Diskussion, Debatte oder Streit?
Abschließend muss auf den Sachverhalt hingewiesen werden, dass sich die Begriffe des Streits und Streitens in der deutschen Alltagssprache als Synonym für Diskussionen eingebürgert haben. Doch nur weil es in einigen Kreisen opportun erscheint, das Konfrontative hervorzuheben, sollte über die Sinnhaftigkeit dieser Praxis nachgedacht werden, zumal der Streit Polemiken, Beleidigung, Hetze, Halbwahrheiten oder Lügen nicht konsequent ausschließt. Wenn es stimmt, dass auf Worte entsprechende Taten folgen können, muss die Wortwahl des Streits aus gesellschaftspolitischer Sicht kritisch hinterfragt werden. Wer eine Streitkultur fordert darf sich nicht wundern, wenn er Streit in Form von Gereiztheit, Polarisierung und gegebenenfalls Extremismus erntet. Da es jedoch mit den Begriffen der Diskussion, Debatte, dem Dialog oder Gespräch friedliche Alternativen gibt, die nicht von den Interpretationsproblemen des Streits befallen sind, erscheint es dem demokratischen Gedankengut entsprechend sinnvoll, sich in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausschließlich dieser konstruktiven Begriffe zu bedienen.
Literatur
1. Pörksen, Bernhard (2018): „Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung“, Carl Hanser Verlag, 2018
2. Römmele, Andrea (2019): „Zur Sache!: Für eine neue Streitkultur in Politik und Gesellschaft“, Aufbau Verlag, 2019
3. Schnabl, Susanne (2018): „Wir müssen reden: Warum wir eine neue Streitkultur brauchen“, Brandstätter Verlag, 2018
4. Georgi, Oliver (2019): “Und täglich grüßt das Phrasenschwein. Warum Politiker keinen Klartext reden – und wieso das auch an uns liegt“, Duden, 2019
5. Wagner, Stefan (2014): „Das Ende der Blender: Die medialen Muster der Ehrlichkeit“, Goldegg Verlag, 2014
6. Noebel, Christoph (2021): „Argument und Kritik“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil I: Gemeinwohl“, epubli, 2021
7. Zorn, Daniel-Pascal (2017): „Logik für Demokraten: Eine Anleitung“, Klett-Cotta, 2017
8. M’Barek, Yasmine (2022): „Radikale Kompromisse: Warum wir uns für eine bessere Politik in der Mitte treffen müssen“, Hoffmann und Campe Verlag, 2022
Kapitalismuskritik oder Markt- und Staatsversagen?
Wirtschaft, October 23, 2023
Über qualitative Eigenschaften der liberalen Marktwirtschaft wird seit einigen Jahrhunderten diskutiert. Diesbezüglich verweisen immer wieder Kommentatoren, wie etwa der Gesundheitsforscher Hans Rosling1, auf die Errungenschaften dieses Wirtschaftssystems: Mehr Wohlstand und höhere Lebensqualität für große Teile der Menschheit durch Innovationen und technischen Fortschritt. Mittlerweile sind die Prinzipien der „freien“ Marktwirtschaft mit ihren zentralen Charakteristika der persönlichen Freiheit, des Privateigentums und des Wettbewerbs international anerkannt und werden weltweit auf unterschiedliche Weise angewandt. Dennoch leidet die liberale Marktwirtschaft unter erheblichen Problemen und lässt sich vielleicht somit als erfolgreichstes aller fehlerhaften Systeme der Neuzeit beschreiben. Im Folgenden konzentrieren wir uns nur auf die Schwachstellen der liberalen Marktwirtschaft und wie mit ihnen in öffentlichen Debatten umgegangen wird. Die hier präsentierte These lautet, dass der klassische Begriff des Kapitalismus für Erklärungen aktueller Wirtschaftsprobleme zu ungenau ist und somit kaum über praxisnahe Anwendbarkeit verfügt. Im Gegensatz dazu bieten die wirtschaftswissenschaftlichen Konzepte des Markt- und Staatsversagens ein deutlich breites Spektrum der Ursachen für Probleme und Missstände in der Wirtschaft. Beide Konzepte sind nicht nur präziser, sondern gemeinsam aussagekräftiger, zielführender und praktisch bedeutsamer als der plakative Begriff des Kapitalismus.
Zunächst fällt auf, dass obwohl in medialen und akademischen Debatten über wirtschaftssystemische Fragen der Begriff des Kapitalismus regelmäßig fällt, die notwendigen Erläuterungen fehlen, was damit gemeint sein könnte. Es wird ausnahmslos angenommen, dass sich Mitdiskutierende, Zuhörer, Zuschauer oder Leser mit dieser Materie und ihrer zeitgemäßen Bedeutung auskennen. Diese Prämisse ist jedoch fehlerhaft. Sogar in den relativ kleinen Kreisen von Akademikern und Intellektuellen, die überwiegend den Kapitalismusbegriffs nutzen, herrscht Unklarheit über die Beschaffenheit und heutige Relevanz dieses Gesellschaftskonzepts. Abgesehen von der deutlich negativen Konnotation stellt dessen begriffliche Unschärfe ein kommunikatives Problem dar, denn der Gebrauch einer ideologisch gefärbten Floskel erschwert oder verhindert konstruktive Diskussionen. Der Verweis auf den Kapitalismus dient vordergründig der Kritik am existierenden System der liberalen Marktwirtschaft, er ist jedoch gleichzeitig Ausdruck diffuser Skepsis, Verunsicherung und Ablehnung. Eine Ausnahme bildet womöglich die USA, denn dort hat der Begriff des Kapitalismus längst nicht das einseitig negative Image wie in Europa. Er wurde im Rahmen des kalten Kriegs eng mit dem Staatssystem der liberalen Demokratie in Verbindung gebracht und als ideologisches Alternativmodell zum Kommunismus propagiert. Im angelsächsischen Raum sprechen daher heute noch viele Kommentatoren ohne Werturteil vom Kapitalismus, wenn sie das System der freien Marktwirtschaft meinen.
Der dehnbare Begriff des Kapitalismus wirft somit kritische Fragen auf: Was hat es mit diesem Konzept auf sich? Was ist unter freier Marktwirtschaft zu verstehen? In welchem Maße überschneiden sich die Grundgedanken des Kapitalismus und der liberalen Marktwirtschaft? Welche Bedeutung kommt der modernen Volkswirtschaftslehre mit dem Konzept des Marktversagens zu? Entsprechen Kapitalismuskritik und Marktversagen gleichen Konzepten? Welche Rolle spielen in dieser Angelegenheit der Staat und dessen vergleichbare Form des Staatsversagens? Oft werden die Begriffe des Kapitalismus und des Neoliberalismus in einem Atemzug genutzt, doch inwiefern passen beide Aspekte zusammen? Im Folgenden soll diesen übergeordneten Fragen nachgegangen werden.
Kapitalismus
Es besteht kein Zweifel, dass sämtliche Wirtschaftssysteme Schwachstellen und Probleme mit gesellschaftsschädlichen Folgen aufweisen. Um diesen Sachverhalt zu erläutern erscheint es sinnvoll, zuerst die von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste Gesellschaftslehre des Kapitalismus zu skizzieren. Knapp formuliert beruht sie auf der Beschreibung ausbeuterischer Produktionsverhältnisse während der Industrialisierung Großbritanniens im 19. Jahrhundert. Marx zufolge lag die zentrale Ursache für derartige Missstände in der Macht des Privateigentums weniger Produzenten zu Lasten der Arbeiterschaft. Die Prozesse der Arbeitsteilung verhalfen unternehmerischen Kapitalisten, mit dem Aufkommen industrieller Technologien einen durch Arbeit geschaffenen Mehrwert für sich alleine zu verbuchen. Daraus leitet sich das Argument ab: Wer über Geld und Kapital verfügt besitzt die Möglichkeiten, auf dem Rücken der Arbeiterschaft Gewinne und mehr Vermögen zu generieren. Diese „marxistische“ Erkenntnis war jedoch schon damals nicht neu, denn bereits zuvor hatte der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon Kritik an Eigentumsverhältnissen geäußert und den Spruch „Eigentum ist Diebstahl“ geprägt. Während Proudhon partielle Veränderungen anstrebte, um für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, argumentierten Marx und Engels, die Überwindung der gesellschaftlichen Maxime des unternehmerischen Gewinnstrebens und die entsprechende Entfremdung der Arbeiter könne nur in Form einer revolutionären Erhebung der Arbeiterklasse geschaffen werden. Das Ziel sei, Kapitalisten zu enteignen und deren Produktionsmittel in Gesellschaftseigentum zu überführen.
Mit seiner apodiktischen Auffassung historisch bestimmter Konflikte zwischen Arbeitern und Kapitaleignern vertrat Marx eine Perspektive, die sich ausschließlich auf materielle Zustände und Sachverhalte bezog und daher als historisch-ökonomischer Determinismus bezeichnen lässt. Demzufolge basieren gesellschaftliche Entwicklungen nicht auf politischen, rechtlichen oder moralischen Konzepten und Entscheidungen, sondern allein auf Grund des Fortschritts der materiellen Produktionstechniken und dessen finanziellen Ertrags. Da die Früchte unternehmerischer Produktion nur in den Händen der Eigentümer landen, sei das Wirtschaftssystem des Kapitalismus durch den anstehenden Aufstand der Arbeiterklasse zum Scheitern verurteilt. Aus den Trümmern des Kapitalismus entstehe durch die Arbeiterrevolution das Gesellschaftsmodell der Diktatur des Proletariats mit zentralgelenktem Staat und einer entsprechenden Planwirtschaft. Diese würde langfristig zu einem arbeitergeführten Kommunismus führen. Mit dem Konzept eines zwangsläufigen Systemwandels bezeichnete Marx nicht nur die Reformforderungen von Proudhon, sondern auch die der damals aufkommenden Sozialdemokratie und anderer bürgerlichen Emanzipationsbewegungen als illusorisch und unzureichend.
Marxismus heute?
Die marxistische Theorie des Kapitalismus wirft nun die Frage auf, in welchem Maße sie für heutige Zustände der Wirtschaft relevant ist. Hierzu lassen sich im Wesentlichen vier Aspekte nennen. Zunächst verwies Marx auf das deutliche Problem ausbeuterischer Verhältnisse, deren Ursache er ausschließlich im Eigentum und Gewinnstreben der reichen Eliten vermutete. Mit dieser These brachte er das Konzept der Macht ins Spiel, das den Einfluss weniger Personengruppen auf das Wohlergehen der Mehrheit hervorhebt. Dieser marxistische Aspekt ist insofern kontrovers, als er im Gegensatz zu den liberalen Ideen des freien Willens und der Rationalität generell von Abhängigkeiten und Opferrollen der Ausgebeuteten ausgeht. Obwohl die raubritterlichen Zustände der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nur noch bedingt für die modernen Industriestaaten zutreffen, trifft seine Kritik an der Macht der Kapitaleigner, besonders im Konzept des Shareholder Values, immer noch zu. Zudem ist nicht zu bezweifeln, dass der Niedriglohnsektor ein unterprivilegiertes Prekariat schafft. Dieser Zustand betrifft heute kaum noch die meist recht gut bezahlten Industriearbeiter, sondern neben teilweise ausbeuterischen Praktiken in Entwicklungsländern auch einige heimische Wirtschaftbereiche, etwa im Dienstleistungssektor. Zusätzlich ergibt sich seit einigen Jahrzehnten ein moderner Armutsfaktor aus sozioökonomischen Entwicklungen der Individualisierung und Immigration. Dieser Trend schlägt sich insbesondere in den existenziellen Problemen Alleinerziehender und Menschen mit ausländischer Herkunft nieder. Da Karl Marx das Thema Armut explizit in den Vordergrund rückte, wird es in öffentlich-medialen Debatten meist pauschal und oft irrtümlich dem ausbeuterischen Kapitalismus zugeordnet. Die Ursachen für soziale Missstände und Armut der Gegenwart sind deutlich komplexer, als sie in einem einfachen Konzept zusammenzufassen sind.
Zu Zeiten Karl Marx spielte die Thematik der Umwelt und ihrer Verschmutzung kaum eine Rolle. Dennoch wird in dieser Hinsicht der Marxismus mit seiner These herangezogen, das Konzept einer steten Akkumulation des Kapitals zugunsten des Unternehmers entspräche einem Wachstumszwang, der langfristig der Umwelt und dem Klima schade. Dieser Aspekt ist durchaus von aktueller Brisanz, da er die Kontroverse der Transformation hin zu grünem Wachstum anspricht: Kann ein gemäßigtes Wirtschaftswachstum gelingen, das mit ökologisch-neutralen Technologien die Umwelt schont und den Klimawandel aufhält? In ihren Bestsellern lautet die Antwort der Journalistin Ulrike Herrmann2 und des japanischen Philosophen Kohei Saito3 ein klares „Nein“. Mit ihrer marxistisch apokalyptischen Prognose sagen beide auf Grund des vermeintlichen Wachstumszwangs den Kollaps des Kapitalismus voraus. Beide fordern daher als Lösung einen autoritär gearteten Ökosozialismus, der auf Rationierung und verschärften Formen staatlicher Wirtschaftsplanung beruht.
Vor dem Hintergrund der noch nicht eingetretenen Prognose von Marx erscheint die heute noch vertretene These eines völligen Zusammenbruchs des aktuellen Wirtschaftssystems nicht nur bedrohlich, sondern auch äußerst spekulativ. Deswegen pflegen Politik und viele Wissenschaftler eine differenziertere Position. Diese mag unter den aktuell verheerenden Entwicklungen des Klimawandels nicht unbedingt optimistisch ausfallen. Sie schließt jedoch nicht aus, dass technologische Innovationen und staatliche Maßnahmen sowie demografische und soziokulturelle Faktoren dazu betragen können, die Energiewende zu beschleunigen und Entwicklungen hin zu einer grünen Wirtschaft mit geringem Wachstum voranzutreiben. Auch wenn Prognosen der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Klimawandels düster ausfallen, bleibt der Menschheit nichts anderes übrig, als vernünftige Gegenmaßnahmen zu treffen. Möchte man an demokratischen Entscheidungsprinzipien festhalten, bietet das Konzept eines zentral geführten Ökosozialismus mit staatlichen Verhaltensvorgaben zur Einhegung des Wachstums zwar ein abstraktes Gedankenspiel, als realistisches Modell erscheint es dagegen illusorisch. Derartige Debatten mögen von akademischem Interesse sein, sie sind im Staatssystem liberaler Demokratien jedoch kaum zielführend und durchführbar. Außerdem kann nicht ausnahmslos davon ausgegangen werden, dass Abflachungen oder Einbrüche im Wirtschaftswachstum zwangsläufig zu einem Systemkollaps führen müssen. Die Lage der japanischen Wirtschaft von 1990 bis 2010 dient in dieser Hinsicht als interessantes Beispiel. Sie belegt, dass lange Phasen des Schrumpfens, des Nullwachstums und konjunktureller Stagnationsperioden durchaus ohne Systemsturz und exzessiven Verzichtsmaßnahmen möglich sind.
Hinsichtlich des Kapitalismus spielt heute die Finanzwirtschaft eine bedeutsamere Rolle als im 19. Jahrhundert. Damals speisten sich unternehmerische Investitionen weitgehend aus privaten Vermögen und kaum über Bankkredite und die Kapitalmärkte. Trotzdem wird den intrinsisch spekulativen Geschäften in den Finanzmärkten das vorgeworfen, was bereits Pierre-Joseph Proudhon beklagte: Geld ohne greifbare Ware werde eingesetzt, um mehr Geld zu verdienen. Dieser Aspekt wirft jedoch zwei Fragen auf: Stellen Risiko und Unternehmergeist trotz ihrer immateriellen Beschaffenheit nicht auch einen Wert dar? Obwohl Finanzmärkte unter diversen Missständen und systemimmanenter Instabilität leiden und womöglich als Handlanger des Klimawandels agieren, gibt es realistische Alternativen zur Finanzierung von Wirtschaft und Staat?
Das Werk von Karl Marx mag sich zeitgemäß auf den Begriff der politischen Ökonomie beziehen und dennoch spielt darin nicht nur der Verbraucher als Entscheidungsträger, sondern auch das Staatswesen aus Politik und Verwaltung eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu Staatstheoretikern, wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau, nach denen der Staat das Volk zu vertreten hat, argumentiert Marx, der Staat schütze nur die Machtansprüche der herrschenden Klasse. Er verwalte lediglich die kapitalistischen Geschäfte der Bourgeoisie und unterstütze somit deren Unterdrückung des Proletariats. Diese Position wird heute in abgeschwächter Form immer noch vertreten, etwa im Kontext des Lobbyismus und der These, Politiker entsprächen Marionetten des Kapitals. Ihr Auftreten und Handeln diene nur den Wirtschaftsinteressen der Kapitalisten.
Marx und die Wirtschaftswissenschaft
Karl Marx hob stets hervor, sein Werk beruhe ausschließlich auf Wissenschaftlichkeit. Diese Selbstgefälligkeit führte dazu, heftige Kritik an Proudhon zu äußern und dessen Thesen als Utopien abzustempeln, obwohl er selber wichtige Aspekte davon übernahm. Seine überhebliche Selbsteinschätzung als Wissenschaftler ist aus vier Gründen erwähnenswert:
Erstens konnte sich Karl Marx zu seiner Zeit nur auf die klassische Wirtschaftstheorie des Philosophen Adam Smith und Ökonomen David Ricardo beziehen. Mit den erweiterten Erkenntnissen der Neoklassik von Léon Walras und Vilfredo Pareto befasste sich Marx bereits nicht mehr. Eine frühe Beschreibung des liberalen Marktsystems bot Alfred Marshall, ein Mitbegründer der Neoklassik und Verfasser des ersten Wirtschaftslehrbuchs im Jahr 1890. Aus Sicht der modernen Ökonomik haben wir es Mitte des 19. Jahrhundert mit sehr frühen und entsprechend einfachen Wirtschaftsmodellen zu tun, die durchaus kritikwürdig sind. Sie vermieden eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit und gaben daher Marx einen berechtigten Anlass, sich der Rolle der Arbeiterklasse anzunehmen. Seine Schwäche lag zweitens darin, dass er als Fundamentalkritiker auftrat und mit dem Kapitalismus eine rein monokausale Ursache der Marktprobleme entwickelte. Schon damals wurde kritisiert, dass seine Erklärungen für wirtschaftliche Missstände zu einseitig und unterkomplex ausfielen. Da sich Marx neben seiner Betätigung als theoretischer Autor, auch als politischer Journalist und Protagonist für die anstehende Arbeiterrevolution verstand, musste drittens seine wissenschaftliche Neutralität schon damals infrage gestellt werden. Die wissenschaftliche Fehlerhaftigkeit des Marxismus liegt nicht nur in seiner einseitigen Perspektive, die Gründe für materielle Ungerechtigkeit ausschließlich bei der Bourgeoisie zu suchen, sondern auch in der apodiktischen Prognose des anstehenden Kollapses der Marktwirtschaft durch den Aufstand der Arbeiterklasse. Dadurch, dass er die evolutionären Entwicklungen der wachsenden Reformbewegungen zu seiner Zeit zwar beobachtete, sie aber als irrelevant abtat, verletzte er viertens zentrale Voraussetzungen für Wissenschaftlichkeit: Aufnahmebereitschaft, rationaler Umgang mit Eventualitäten und Bescheidenheit. Später setzte Lenin die revolutionären Erwartungen und Forderungen von Marx und Engels mit den bekannten Folgen in die Tat um.
Da sich der Wissensstand der Wirtschaftsdisziplin im 19. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen befand, kann man Karl Marx für seine Kritik an der klassischen Theorie nur bedingt beanstanden. Anders ist es dagegen mit heutigen Vertretern des Marxismus, die sich über die enormen Entwicklungen der Wirtschaftswissenschaften seit Beginn des 20. Jahrhundert ausgiebig informieren können. Nicht nur befassen sich fast ausschließlich Nicht-Ökonomen mit dem Phänomen des Kapitalismus, ihre Wirtschaftskompetenzen reichen meist nicht über die Neoklassik oder gegebenenfalls über den frühen Keynesianismus der 1930er Jahre hinaus. Heutige Kommentare zum Kapitalismus beruhen auf wirtschaftsbezogenen Kenntnissen, die weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammen. Dazu zählt Ulrike Herrmann, die zwar das „Versagen der Ökonomen“ beklagt, sich jedoch kaum mit den Entwicklungen der Wirtschaftswissenschaften während der letzten fünfzig Jahre auszukennen scheint. Auch Kohei Saito hält es für notwendig, die Forschung des Nobelpreisträgers William Nordhaus4 zurückzuweisen, obwohl dieser sich bereits in den frühen 1990ern intensiv mit wirtschaftspolitischen Problemen und Maßnahmen hinsichtlich des Klimawandels befasste. Im Folgenden soll daher ein Blick auf ein paar moderne Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft geworfen werden, um das marxistische Konzept des Kapitalismus anhand der alternativen Begriffe des Markt- und Staatsversagens qualitativ einzuordnen.
Kapitalismus oder Marktversagen?
Karl Marx kritisierte die klassische Markttheorie aus Gerechtigkeitsgründen. Da die frühen Thesen von Smith und Ricardo zunächst als abstrakte Erklärungsansätze für die Existenz und Funktionsfähigkeit der Märkte diente, spielten zu ihrer Zeit Fragen der Gerechtigkeit keine Rolle. Zur Beschreibung der Beschaffenheit von Gütermärkten zählten das Zwischenspiel von Angebot und Nachfrage, der freie Zutritt für Unternehmer, die Annahme individueller Rationalität aller Wirtschaftsakteure, die Kräfte des Wettbewerbs und das daraus entstehende Gleichgewicht, das zur Einhegung von Monopolen führe. Mit den Merkmalen der Innovationskraft, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit illustrierte die Neoklassik als Einstieg in die Ökonomik den Vorteil eines wettbewerbsbasierenden Wirtschaftssystems. Während bei Marx der wertschöpfende Angestellte im Vordergrund steht, macht der durch Konkurrenz herbeigeführte Preisdruck den Verbraucher zum Hauptgewinner der freien Marktwirtschaft. Obwohl das Narrativ einer liberalen Marktwirtschaft aussagekräftig ist und heute weltweit als Vorbild existierender Wirtschaftsysteme dient, entspricht es einem einfachen Ideal, dass durchaus kritikwürdig ist. Anstatt der marxistischen Position, diesen Marktansatz vollkommen zu verurteilen, entwickelten spätere Ökonomen Theorien, die sich punktuell mit dessen fehlerhaften Annahmen und Auswirkungen befassen. Heutzutage gilt somit der folgende Leitgedanke: Missstände in der Wirtschaft beruhen auf sehr unterschiedlichen Ursachen und benötigen staatliche Regulierungsmaßnahmen, die mit den Mitteln der Wirtschaftspolitik wichtige Kontroll- und Korrekturfunktionen ausüben. Dieser Ansatz grenzt sich deutlich vom marxistischen Gedanken eines radikalen Systemwandels ab.
Wie sämtliche Sozialwissenschaften ist die Volkswirtschaftslehre oder Ökonomik eine heterogene Disziplin. So existieren Vertreter marktlibertärer oder marktfundamentalistischer Ansichten, die sich stark an der Neoklassik ausrichten. Dagegen befürworten die meisten Ökonomen moderne Variationen des Keynesianismus, deren marktkritische Positionen über Jahrzehnte weiterentwickelt wurden. Die meisten Lehrbücher befassen sich somit mal mehr, mal weniger mit den Schwächen der freien Marktwirtschaft unter dem Konzept des Marktversagens. Knapp formuliert handelt es sich dabei um problematische Verhaltensmuster der Wirtschaftsakteure und marktbedingte Sachverhalte, die dem Gemeinwohl schaden. Obwohl die Liste der Ursachen5 vielschichtig ausfällt, werden in der Standardökonomik meist fünf Phänomene aufgeführt. Darunter fällt zunächst das Problem ungleicher Informationsstände, das auf den Wissensnachteil etwa des Verbrauchers gegenüber einem Produzenten oder Dienstleister hinweist. Darüber hinaus bergen in Abweichung vom Idealfall des Marktsystems Monopole, wie die amerikanischen Internetriesen, einen potentiellen Schaden für den Verbraucher und die Gesellschaft. Ein drittes Marktproblem entsteht durch irrationales Handeln der Wirtschaftsakteure. Obwohl die Ursachen dafür je nach Marktaspekt unterschiedlich ausfallen, spielt das sozialpsychologische Phänomen des Herdentriebs oft eine wichtige Rolle als Verstärker.
Womöglich der Klassiker des Marktversagens fällt unter den Begriff externer Effekte. Dieser Aspekt beschreibt eigennützige Verhaltensmuster der Verbraucher und Unternehmen, die schädliche Nebeneffekte verursachen. Diese werden dadurch externalisiert, dass sich die entstandenen Kosten auf die Gesellschaft übertragen lassen. Die zweifellos wichtigste Variante externer Effekte bezieht sich auf die Verschmutzung der Umwelt mit den entsprechenden Folgeschäden für Natur, Klima und Mensch. Da bereits Fach- und Lehrbücher seit den 1960ern oder der Club of Rome in 1972 diese Form des Marktversagens thematisierten, kann nicht behauptet werden, es handle sich um Neuentwicklungen jüngster Zeit. Dieser Punkt wird besonders durch den Ökonom Cecil Pigou6 verdeutlicht, der schon im Jahr 1920 auf das Problem der Luftverschmutzung durch Unternehmen verwies und zur Korrektur eine entsprechende Steuer forderte. Die sogenannte Pigou-Steuer zur Internalisierung der anfallenden Kosten für die Gemeinschaft entspricht dem Konzept der heutigen CO2-Steuer. Dieser Hinweis wirft nun wichtige Fragen auf: Warum wird das Thema der Umweltverschmutzung erst dann in öffentlichen Foren ernsthaft diskutiert, wenn es mit dem Klimawandel fast zu spät ist? Wo bleibt der Staat, wenn er gefordert ist, zu handeln? Warum kennt im Vergleich zu Marx kaum jemand den weitsichtigen Pigou? Während dieser Ökonom ein spezifisches Problem mit konkreter Lösung versieht, wie realitätsnah ist Marx mit seiner Kapitalismuskritik und dem Ruf nach revolutionärem Systemwandel? Cecil Pigou gilt als Mitbegründer der Wohlfahrt- und Verhaltensökonomik, die sich kritisch mit dem freien Marktsystem befasst. Im Kontext der heutigen Umweltkrise ist sein Beitrag auch deshalb bedeutsam, weil er bereits damals verdeutlichte, dass Ökonomen versuchen, sachbezogen, kritisch und punktuell lösungsorientiert zu arbeiten. Karl Marx trat dagegen hauptsächlich als Kritiker auf und somit verblasst seine pauschale Forderung eines völligen Systemwandels vor den realitätsnahen und reformsuchenden Ansätzen engagierter Ökonomen.
Der Verweis auf die Wohlfahrtökonomik erlaubt es abschließend, eine weitere Form des Marktversagens zu benennen. Die liberale Marktwirtschaft verfügt über zwei systembedingte Schwachstellen. Erstens ist sie nicht in der Lage, einige Güter flächendeckend anzubieten. Hierbei handelt es sich einerseits um strategische Infrastrukturgüter, etwa in den Bereichen des Transportwesens, der Telekommunikation oder der Strom-, Wasser und Wärmeversorgung. Andererseits kann der freie Markt über den Preismechanismus immaterielle Güter, wie Sicherheit, Gesundheit oder Bildung nicht ausnahmslos gewährleisten. In beiden Fällen ist der Staat gefordert, diese öffentlichen Güter bereitzustellen.
Das zweite Problem ergibt sich aus der marktimmanenten Bedeutung der Leistung als zentrales Kriterium für die Vergütung von Arbeit. Abgesehen davon, dass Leistung häufig schwer zu quantifizieren ist, unterscheidet sich dieses Konzept vom ideellen Gedanken des Bedürfnisses, das Karl Marx propagierte. Das liberale Marktsystem leidet somit unter einem intrinsischen Ungerechtigkeitsproblem. Auf Grund der Tatsache, dass Menschen mit unterschiedlichen Einkommen und Vermögen ausgestattet sind, kann die moderne Marktwirtschaft aus eigener Kraft die Schere zwischen Armut und Reichtum nicht ausreichend reduzieren. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang vom Problem ökonomischer Ungleichheit. Auch hier ist der Staat gefordert, mit angemessenen Korrekturmaßnahmen einzugreifen7.
Wirtschaftspolitik und Staatsversagen
Die knappe Skizze einiger Formen des Marktversagens belegt zunächst, dass die Ursachen für Probleme der freien Marktwirtschaft äußerst vielschichtig ausfallen und sich nicht nur auf ausbeuterisches Verhalten einiger Kapitalisten reduzieren lassen. Es wurde bereits erwähnt, dass in Abwesenheit eines revolutionären Systemwandels der Staat verpflichtet ist, mit angemessener Wirtschaftspolitik eine Kontroll- und Korrekturfunktionen zu übernehmen, um ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Missständen der freien Marktwirtschaft entgegenzuwirken. Ein erheblicher Vorteil des wissenschaftlichen Konzepts des Marktversagens besteht folglich darin, dass sich daraus zwangsläufig wirtschaftspolitische Maßnahmen ableiten lassen. Vereinfacht fallen in den Bereich staatlicher Wirtschaftspolitik drei wesentliche Funktionen: Erstens zählt dazu die Daseinsvorsorge und Bereitstellung öffentlicher Güter. Zweitens müssen Politik und staatliche Behörden direkt ins Marktgeschehen eingreifen, um mit Regulierung und Anreizen Fehlverhalten zu unterbinden. Drittens bedarf es der Sozialpolitik, damit das Gerechtigkeitsproblem der liberalen Marktwirtschaft durch Transferleistungen zumindest teilweise entschärft wird. Obwohl das Konzept der Sozialpolitik international unterschiedliche Prägungen aufweist, war es der deutsche Ökonom Alfred Müller-Armack8, der 1946 den Begriff der sozialen Marktwirtschaft schuf. Er betrachtete sie als Mischform der freien Marktwirtschaft und sozialistischen Planwirtschaft.
Ein weiterer Vorteil des Konzepts des Marktversagens ergibt sich aus den Beobachtungen, dass sich die Ursachen für Fehlentwicklungen in der Wirtschaft mühelos auf das Staatwesen anwenden lassen9. Auf Grund von Ignoranz, Egoismen, Wettbewerbsdruck und bürokratischen Hürden tragen Politik und öffentliche Verwaltung zu Fehlentwicklungen bei, die dem Gemeinwohl schaden und somit unter den Begriff des Staatsversagens fallen. In Bezug auf staatliche Regulierungsmaßnahmen kann von politischem und behördlichem Versagen gesprochen werden, wenn diese entweder vermieden, fehlerhaft konzipiert oder mangelhaft umgesetzt werden. Angewandt auf den Umweltschutz lassen sich in dieser Hinsicht drei Aspekte nennen: Zunächst müssen Probleme erkannt und definiert werden, um eine fundierte Diagnose zu erstellen. Hier boten Klimaforscher über Jahrzehnte wissenschaftliche Fakten, die den nahenden Klimawandel voraussagten. Es dauerte lange, bis sich dieser Wissensstand in der Politik durchsetzte und sie letztlich zwang, Gegenmaßnahmen oder Therapien zu entwickeln. Wie die aktuelle Umweltpolitik verdeutlicht, leidet der Staat heute weniger unter dem Problem, was getan werden sollte, sondern wie sich die Maßnahmen zur Gestaltung der Energiewende umsetzen lassen. Das Suchen nach Ursachen und Lösungen der Klimakrise verdeutlicht einen zentralen Sachverhalt: Markt- und Staatsversagen verhalten sich wie zwei Seiten einer Medaille. Einfache Kapitalismuskritik mag populär sein, sie greift hier jedoch deutlich zu kurz.
Die analytische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Marktversagens zeigt einen wichtigen Aspekt auf. Einerseits braucht der moderne Staat die materielle Wertschöpfung der Wirtschaft als Einnahmequelle, während umgekehrt die moderne Marktwirtschaft den Staat als Legitimationsinstanz, Regulator und Architekt des Ordnungsrahmens benötigt. Wir haben es also mit gegenseitigen Abhängigkeiten von enormer Tragweite zu tun. Besonders deutlich wird dieses Verhältnis in der Abhängigkeit des Staates von den Finanzmärkten: Sollte öffentliche Verschuldung politisch gewollt sein, bleibt ihr bei heutigen Finanzierungsvolumen keine andere Wahl, als sich auf die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Anleihemärkte einzulassen. Mit Kapitalismus hat diese staatliche Verknüpfung nichts zu tun, wobei jedoch darauf zu achten ist, dass trotz seiner Abhängigkeit von den Kapitalmärkten der Staat seine Kontroll- und Regulierungsfunktion der Banken nicht vernachlässigen darf.
Im Zusammenhang mit dem Bereich der Wirtschaftspolitik wird oft die Kritik geäußert, der Staat ziehe sich zunehmend von seinen Aufgaben zurück und vertrete somit eine neoliberale Politik. Zunächst sei betont, dass der Neoliberalismus im Collogue Walter Lippmann von 1933 als dritter Mittelweg zwischen dem uneingeschränkten Liberalismus der Neoklassik und dem marxistischen Konzept der Planwirtschaft begrifflich definiert wurde. Er ist also nicht weit von Müller-Armacks Ansatz der sozialen Marktwirtschaft entfernt. Die Tatsache, dass sich kleine Gruppen von Ökonomen, Politikern und Kommentatoren immer wieder zu einer stark marktliberalen Richtung hingezogen fühlen, bedeutet keineswegs, dass eine fundamentale Abkehr der wirtschaftsregulierenden und sozialwirtschaftlichen Rolle des Staates stattfindet. Während beispielsweise die Sozialausgabenquote in 1960 etwa 18% des BIPs ausmachte, liegt sie seit den 1990ern konstant um 30%. Was dagegen für ernsthaften Diskussionsstoff sorgt, ist die Verteilung öffentlicher Ausgaben und die Effektivität der staatlichen Regulierungsfunktion. Aktuelle Diskussionen über Bürokratieabbau belegen, dass Qualitätsdebatten geführt werden müssen und Vorwürfe eines zu schwachen Staats nur dann berechtigt sind, wenn er seinen Aufgaben nur unzureichend nachkommt.
Öffentlicher Diskurs
Die Fragestellung „Kapitalismuskritik oder Markt- und Staatsversagen?“ erforderte zunächst eine Klärung der entsprechenden Konzepte. Für eine oberflächliche und kurzlebige Medien- und Verlagswelt erscheint es dagegen opportun, sich trotz geringer Aussagekraft auf die vagen Floskeln des Kapitalismus und Neoliberalismus zu beziehen. Mit dem Fokus auf konkrete Probleme, Fehlentwicklungen und komplexe Zusammenhänge bieten dagegen die ökonomischen Aspekte des Markt- und Staatsversagens eine informativere Alternative. Sachliche und zielführende Debatten sind somit nur möglich, wenn Pauschalitäten und Skandalisierung durch Fakten und fachliches Wissen ersetzt werden.
Literatur
1. Rosling, Hans et al. (2019): „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“, Ullstein, 2019
2. Herrmann, Ulrike (2023): „“Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden.“, Kiepenheuer & Witsch, 2023
3. Saito, Kohei (2023): „Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“, dtv, 2023
4. Nordhaus, William D. (1994): “Managing the Global Commons: The Economics of Climate Change“, MIT Press, 1994
5. Noebel, Christoph (2021): „Marktversagen: Die ‚unsichere‘ Hand des Marktes“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil II: Wirtschaft“, epubli, 2021
6. Pigou, Arthur Cecil (1920): “The Economics of Welfare”, Macmillan, 1920
7. Noebel, Christoph (2021): „Ökonomische Sozialethik: Markt und Gerechtigkeit“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil II: Wirtschaft“, epubli, 2021
8. Müller-Armack, Alfred (1946): „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, Kastell Verlag, 1990
9. Noebel, Christoph (2022): „Staatsversagen: Die ‚unsichere‘ Hand des Staates“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil III: Staatswesen“, epubli, 2022
Pazifismus: Positionen gegen Militarismus
Staatswesen, July 11, 2023
Mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine ergeben sich zwangsläufig Fragen zur Beschaffenheit und Relevanz einer pazifistischen Denkweise im Gegensatz zu einer militaristischen. Im Folgenden soll erörtert werden, warum es sich bei dieser Gegenüberstellung von Sicherheitskonzepten um deutlich unterschiedliche Positionen handelt, wobei Überschneidungen und Annäherungen nicht ausgeschlossen sind. Um auf diesen Sachverhalt einzugehen, erscheint es hilfreich, zuerst mit einer knappen Definition und Einordnung der Begriffe des „Kriegs“ und „Friedens“ zu beginnen.
Krieg und Frieden
Nach Angaben des Dudens ist Krieg ein „mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, Völkern; größere militärische Auseinandersetzung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.“ Er fordert stets menschliche Opfer, verursacht Zerstörung der Lebensgrundlagen und mündet meist in Trauma, Vertreibung und Flucht. Obwohl die knappe Beschreibung eine konzeptionelle Grundlage für Debatten bildet, greift sie insofern zu kurz, als Kriege unterschiedliche Formen und Ursachen aufweisen. Zunächst finden kriegerische Einsätze nicht nur zwischen Staaten statt, sondern beziehen sich gelegentlich auf gewalttätige Konflikte in Form von nationalen Bürgerkriegen. Hier spielen oft separatistische Bestrebungen eine Rolle. Darüber hinaus können Kriege auf konventionelle, atomare und asymmetrische Weise mit dem Einsatz von Partisanen oder Guerillas geführt werden. Neben wirtschaftsbezogenen Blockaden und Sanktionen werden neuerdings auch Cyberangriffe als Form der Kriegsführung bezeichnet. Kriege verfügen über einen wichtigen Aspekt: Sie sind ein weltweites und universelles Phänomen. Es gibt kaum einen Kontinent, in dem nicht Kriege mit Brutalität und Verletzung der Menschrechte geführt wurden und noch heute geführt werden.
Bei den ursächlichen Motiven für kriegerische Einsätze ist zwischen Angriff und Verteidigung oder Befreiung zu unterscheiden. Angriffskriege basieren in der Regel auf fragwürdigen Machtansprüchen mit religiösen oder ideologischen Wertvorstellungen sowie auf persönlichen Egoismen, Animositäten und Phantasien geopolitischer Vormachtstellung. Dabei spielen meist auch wirtschaftliche Faktoren, Kampf um Ressourcen und Eigentumskonflikte eine Rolle. Oft wird ein kriegerischer Angriff mit dem Argument gerechtfertigt, es handle sich um einen notwendigen Präventivschlag, um Bedrohungen abzuwenden. Internationale Kriege und Kriegsbeteiligungen werden grundsätzlich von staatlichen Entscheidungsträgern und nicht vom Volk beschlossen, egal, ob sie von Demokraten oder Diktatoren begonnen werden. Schon Erasmus von Rotterdam behauptete 1517: „Ein sachliches Erwägen der Kriegsursachen wird erweisen, dass alle Kriege zum Vorteil der Fürsten vom Zaun gebrochen und stets zum Nachteil des Volkes geführt wurden, da ja das Volk nicht im geringsten daran interessiert war.“
Angriffskriege sind in der Regel völkerrechtswidrig. Der 1919 gegründete Völkerbund und insbesondere der Pariser Briand-Kellogg-Pakt legten im Jahr 1928 den Grundstein für den Ausbau des Völkerrechts und eine entsprechend internationale Ächtung des Angriffskriegs. Umgekehrt erlaubt das Kriegsrecht einem angegriffenen Staat, sich zu wehren und zu verteidigen. Er darf somit völkerrechtlich einen Verteidigungskrieg führen.
Die Definition des Friedens ist um einiges überschaubarer und somit beschreibt der Duden ihn als einen „ Zustand des inner- oder zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit“. Es handelt sich folglich um einen ideellen Sollzustand, dessen Realisierung nicht zwangsläufig gewährleistet werden kann und deswegen stets anzustreben ist. Die aktive Vermeidung von Krieg zugunsten eines weltweiten Friedens lässt sich als Friedenspolitik bezeichnen. Dieser politische Aspekt ist von Bedeutung, denn er ordnet kriegerische Konflikte in ein Dreistufenmodell ein. Jeder Krieg verfügt über eine Entwicklungsphase, den Ausbruch und nach Beendigung der Gewalt eine Phase der Bewältigung, des Wiederaufbaus und einer politischen Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Im Folgenden werden wir uns nur auf die ersten beiden Phasen konzentrieren.
Warum ist dieses Dreistufenmodell für einen Vergleich zwischen den Konzepten des Pazifismus und Militarismus von Bedeutung? Um darauf näher einzugehen, ist es zuerst notwendig, beide Begriffe zu skizzieren. Bei der Beschreibung muss jedoch darauf geachtet werden, dass sie sowohl mit individuellen und persönlichen, als auch mit institutionellen Positionen und Verhaltensmustern zu tun haben. Wertvorstellungen betreffen sowohl den Einzelnen als auch Organisationen.
Pazifismus und Militarismus
Beginnen wir mit den Charakteristiken des Pazifismus. Er teilt sich in zwei Kategorien ein, sodass vereinfacht zwischen dem radikalen Pazifismus und einer gemäßigten Form unterschieden werden kann, die sich als moderater Pazifismus bezeichnen lässt. Die ex-treme oder radikale Form beschreibt eine Haltung des vollkommenen Gewaltverzichts und einer kategorischen Ablehnung, sich an kriegerischen Konflikten zu beteiligen. Auf individueller Ebene bedeutet „gewaltfrei leben“, aus Gewissensgründen oder religiösen Motiven andere Menschen nicht verletzen und töten zu wollen. Diese gesinnungsethische Position entspricht einem internationalen Menschenrecht, das den Akt der Kriegsdienstverweigerung zulässt. Zu den bekanntesten Radikalpazifisten zählt wohl Jesus, der sich mit seinem damals neuen Glaubensbekenntnis gegen alle Formen der Gewaltausübung aussprach. Seit dem 20. Jahrhundert gehören die Friedensnobelpreisträger Bertha von Suttner (1905), Martin Luther King (1964), Desmond Tutu (1984) und Nelson Mandela (1993) zu dieser Kategorie, aber auch Mahatma Gandhi sowie die engagierten Künstler Kurt Tucholsky und John Lennon.
Da nur politische Staatsorgane internationale Kriege anzetteln, können staatskritische Positionen, wie die des Franzosen Pierre-Joseph Proudhon oder des Russen Leo Tolstoi herangezogen werden, um daraus die Form eines anarchistischen Pazifismus abzuleiten. Neben persönlichen Motiven des Pazifismus lassen sich auf institutioneller Ebene diverse Friedensgesellschaften nennen, die sich militaristischen Strömungen widersetzen und sich aktiv gegen Gewalt und Krieg engagieren. Dazu zählt die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstverweigerInnen (DFG-VK), ursprünglich als DFG in 1892 gegründet. In Großbritannien entspricht die Peace Pledge Union, gegründet 1934, mit ihrer Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einer vergleichbaren radikalen Friedensgesellschaft. Beide Institutionen sind Mitglieder der Organisation War Resisters´ International (WRI).
Angelehnt an Konzepte des Pazifismus sind einige Staaten bereit, unabhängige Positionen hinsichtlich internationaler Kriegsführung einzunehmen. In Europa gehören dazu Irland, Österreich und die Schweiz. Schweden und Finnland sind gerade dabei, ihre Neutralität zugunsten ihres Beitritts der NATO aufzugeben. Trotz des geringen Risikos eines kriegerischen Überfalls bietet die staatliche Neutralität den Vorteil, von potentiellen Konfliktparteien nicht als Gegner oder Bedrohung eingestuft zu werden. Sie vertreten eine Sicherheitspolitik, die sich von den fragwürdigen Prozessen des militärischen Wettrüstens abwendet. Auf Grund der unparteiischen Haltung und entsprechenden Glaubwürdigkeit werden neutrale Staaten oft herangezogen, um als unparteiliche Vermittler in internationalen Konflikten aufzutreten. Einige Staaten gehen sogar einen Schritt weiter, indem sie sich kein Militär zulegen und auch über keine externe Schutzmacht verfügen. Zu diesen Ländern zählen Costa Rica, Lichtenstein, Mauritius und Panama.
Während sich der radikale Pazifismus mit dem Primat der Gewaltlosigkeit einer moralischen oder gesinnungsethischen Haltung verschreibt, lässt der moderate Pazifismus gegebenenfalls Ausnahmen zu. Seine differenzierte Position, nicht jeden Kriegseinsatz grundsätzlich zu verurteilen, ist eng mit der Person des Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell (1950) verbunden. Er setzte sich aktiv für eine effektive Friedenspolitik ein, doch gleichzeitig rechtfertigte er als Ausnahmefall den militärischen Widerstand der Alliierten gegen das Deutsche Naziregime. Mit der Gründung der britischen Organisation Campaign for Nuclear Disarmament (CND) schaffte Russell gemeinsam mit dem „Committee of 100“ nicht nur das weltweit anerkannte Friedenszeichen, sondern prägte auch den Begriff eines relativen Pazifismus. Damit verdeutlichte er, dass neben dem ethisch geleiteten Pazifismus, eine Form möglich ist, die sich an vernunftgeleiteten und sachlichen Argumenten ausrichtet. Der Philosoph Olaf Müller1 spricht diesbezüglich von einem pragmatischen Pazifismus. Obwohl der Begriff des Pragmatismus generell mit Besonnenheit, Lösungsorientierung und gutem Krisenmanagement assoziiert wird, ist die Formulierung im Kontext des Pazifismus nicht ganz treffend. Mit seiner Konzentration auf aktuelle Gegebenheiten vermeidet der Pragmatiker, sich mit ideellen Fragen der Zukunftsgestaltung zu befassen. Im schlimmsten Fall verursacht er dadurch die Probleme und Krisen, die er dann, wenn sie eintreten, auf angemessene Weise versucht zu lösen.
Hinsichtlich des Militarismus lautet zunächst die Definition des Dudens: „Vorherrschen militärischen Denkens in der Politik und Beherrschung des zivilen Lebens in einem Staat durch militärische Institutionen“. Wir haben es also mit ausgeprägten Denkmustern der Politik zu tun, die autoritäre Züge des Gehorsams und hierarchischer Entscheidungsstrukturen aufweisen. Militarismus basiert auf Konkurrenzdenken und den Vorstellungen einer machtbesessenen oder ideologischen Überlegenheit. Er beruht weitgehend auf einem pessimistischen und abwertenden Menschenbild potentieller Gegner, die es in lokalen oder geopolitischen Konflikten des Kräftemessens zu schlagen, übertreffen oder missionieren gilt. In diesen konfrontativen Denkmustern spielt der „Kollateralschaden“ in Form von Opfern und Zerstörung keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Auch beim Militarismus muss zwischen radikalen und gemäßigten Prägungen differenziert werden. Das Gesamtkonzept der Kriegslogik, in der Krieg unausweichlich ist und permanente Maßnahmen erfordert, gilt jedoch für beide Formen, also auch für den moderaten und weniger aggressiven Militaristen.
Aus der Vorstellung, Gewaltbereitschaft und Krieg entspräche einem durch Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Naturgesetz, folgt die Notwendigkeit, sich mit militärischen Maßnahmen der Abschreckung abzusichern. Das entsprechende Motto lautet: “Mit Waffen Frieden schaffen“. Diese Haltung entspricht der tragischen Dynamik eines sozialen Dilemmas: Obwohl Politiker und Staatsoberhäupter meist keinen Krieg anstreben, folgen sie dem vermeintlichen Gebot, sich verteidigen zu müssen. Dabei tritt jedoch das Problem unterschiedlicher Wahrnehmungen auf: Inwiefern dienen militärische Mittel einer Verteidigung gegen Angriffe und in welchem Maße können sie umgekehrt als Bedrohung oder Eskalation existierender Konflikte gedeutet werden? Besonders das Konzept, der Angriff sei die beste Form der Prävention und Verteidigung, kann neben militärischer Absicherung gleichzeitig dazu führen, kriegerische Eingriffe zu rechtfertigen. Das Ergebnis ist ein Wettrüsten, das stets auf dem Streben nach militärischen Vorteilen und einem entsprechenden Gleichziehen beruht. Da auf Grund der Verteidigungslogik Kriege ausbrechen können, entspricht diese Dynamik dem Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein extremes Beispiel dafür bietet die militärische Strategie der atomaren Abschreckung, genannt „Mutually Assured Destruction“ (MAD), einer gegenseitig zugesicherten Zerstörung, die bezeichnenderweise aus dem Englischen mit „Verrückt“ übersetzt wird. Hier besteht die Hauptgefahr, dass im Zeitalter atomarer Aufrüstung und kalter Kriegsrhetorik militärische Angriffe durch Irrtum oder Zufall ausgelöst werden. Wie der Vorfall des russischen Offiziers Stanislaw Petrov im Jahr 1983 verdeutlichte, verhinderte nur seine Befehlsverweigerung, auf einen vermeintlichen NATO-Angriff mit dem entsprechendem Gegenschlag zu reagieren, einen Nuklearkrieg, der ungewollt große Teile der Menschheit ausgelöscht hätte.
Friedenspolitk
Um den Vergleich zwischen Pazifismus und Militarismus zu konkretisieren, ist es dienlich, die zwei wesentlichen Aspekte des bereits erwähnten Dreistufenmodells heranzuziehen. Beginnen wir mit dem Aspekt der Entstehung eines kriegerischen Konflikts. Eine wichtige Charakteristik des Pazifismus besteht darin, dass viel Wert auf das Konzept der Ursachen und Wirkung gelegt wird. Das Hervorheben der Ursachen für das Entstehen von Angriffsriegen ist insofern bedeutsam, als sich dabei meist eine Fülle von Gründen nennen lässt. Diese können die Form „eigener Interessen“ einnehmen, etwa in Form von egoistischem Machtstreben oder eines kolonialen Anspruchs auf knappe Ressourcen. Andererseits werden Angriffe durch diplomatisches Scheitern in Form verbaler Demütigung, fehlender Wertschätzung oder gebrochener Versprechen verursacht. So wurde der Angriffskrieg in der Ukraine von russischer Seite nicht nur aus opportunistischen Machtmotiven begonnen, sondern Wladimir Putin rechtfertigt ihn mit einer gefühlten Bedrohung seitens der NATO. Ähnliche Argumente kennen wir von Angriffskriegen, die von den USA ausgingen.
Mit dem Fokus auf vielschichtige Ursachen internationaler Konflikte zeigt sich ein wichtiges Merkmal der Menschen mit pazifistischer Perspektive: Sie schenken weit mehr Aufmerksamkeit der Wahrung diplomatischer Beziehungen und der Konfliktvermeidung als diejenigen Personen, die sich an militaristischen Konzepten mit dogmatischer Einstellung ausrichten. Die Diplomatie beruht im Wesentlichen auf den Grundlagen der Toleranz gegenüber Positionen Andersdenkender, was nicht mit Akzeptanz verwechselt werden darf. Diplomaten mit moderat-pazifistischer Disposition pflegen daher auf internationaler Ebene eine zivilisierte Gesprächskultur auf Augenhöhe. Formen der Rhetorik, basierend auf öffentlichen Drohungen, Beleidigungen und moralischen Forderungen, dienen dagegen der Provokation. Sie konterkarieren ernsthafte Versuche einer konstruktiven und friedlichen Zusammenarbeit. Diese Form der vernunftbezogenen oder verantwortungsethischen Diplomatie wird im Gegensatz zur wertegeleiteten oder gesinnungsethischen Variante generell als Realpolitik bezeichnet. Obwohl sie oft schwierig umzusetzen ist, verspricht sie langfristig mehr Stabilität und Frieden als ideologische Schlagabtausche. Beispiele einer rationalen Friedenspolitik lieferten die Ostpolitik des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt (1971) und die Gesprächsbereitschaft des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in 1972 mit dem ideologischen Gegenspieler Leonid Breschnew der UDSSR und dem chinesischen Staatschef Mao Zedong. Derartige Maßnahmen der Diplomatie wären sinnlos, wenn die Ursachen für Kriege ausschließlich bei egoistischen Motiven der Staatshäupter lägen. Viele Kriege ergeben sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Interessen und der Unfähigkeit, diese mit den friedlichen Mitteln der Diplomatie in Einklang zu bringen.
Verteidigung ohne Angriffswaffen
Die Ursachen für Kriegsausbrüche mögen beim menschlichen Versagen der Politik liegen, doch ohne militärisches Gerät wären Kriege nicht möglich. Um das Engagement moderater Pazifisten zugunsten der Vermeidung von kriegerischen Konflikten zu beschreiben, sollen zwei Nobelpreisträger hervorgehoben werden, die sich dieses Arguments annahmen. Der britische Diplomat und Chairman des ehemaligen Völkerbunds von 1932 bis 1934, Arthur Henderson (1934), bemühte sich gemeinsam mit seinem Kollegen Philip Noel-Baker (1959), internationale Einigung über eine weltweite Verteidigungspolitik herbeizuführen, die keine Angriffswaffen zulässt. Die pazifistische oder antimilitaristische Logik lautete damals, dass ohne Angriffswaffen in Form von Panzern, Flugzeugen und Schiffen ein internationaler Kriegsausbruch nicht mehr möglich sei, sodass langfristig auch Defensivwaffen kaum mehr gebraucht würden und die freigewordenen Finanzmittel für soziale und ökologische Maßnahmen zur Verfügung stünden. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Die militaristische Denklogik setzte sich durch und daher wurden weder Zweiter Weltkrieg noch die vielen Kriege danach verhindert. Dieser Sachverhalt wirft nun die kritische Frage auf, warum die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbunds nach 1945 die diplomatischen Anstrengungen für eine international verhandelte Verteidigungspolitik nicht wieder aufgriffen und verwirklichten.
Kriegsplanung
Mit der Ausrichtung auf die Vermeidung von Kriegen bedienen sich moderate Pazifisten der wissenschaftlichen Methoden, um Ungewissheiten, diverse Risikoszenarien und die potentiellen Konsequenzen der Kriegsführung auszuwerten. Umgekehrt befassen sich Militaristen mit möglichen Kriegsszenarien, wobei das Hauptmotiv beim siegreichen Ausgang liegt und weniger oder gar nicht beim daraus entstehenden Schaden. Sowohl Pazifisten, als auch Militaristen bedienen sich Abwägungstechniken der Kosten-Nutzen-Analyse, der eine jedoch, um auf das zu erwartende Leid hinzuweisen, während der andere sie für seine Kriegsplanung einsetzt. Geht im letzteren Fall etwas schief, lautet der englische Spruch oft: „It wasn’t wargamed for“. Der negative Verlauf und seine Folgen waren nicht eingeplant. Ein Beispiel der Neuzeit liefert das Scheitern des russischen Angriffs auf Kiew in 2022. Einen ähnlich gescheiterten Ausgang bietet der Angriff der amerikanischen Truppen zur Beseitigung des Diktators Saddam Hussein im Zweiten Irakkrieg 2003. Daraufhin versank das Land im Chaos, es bildete sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) und auf Grund der entstandenen Gewaltspirale werden seitdem bis über eine Million Zivilopfer in Irak und Syrien geschätzt. Zwei wichtige Aspekte werden in der Kriegsplanung allzu häufig ignoriert: die kulturellen Besonderheiten der Angegriffenen und das psychologische Phänomen der Verrohung und der entsprechenden Inkaufnahme willkürlicher Gewalt. Nicht nur die Massenmorde der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Massaker von Mỹ Lai in Vietnam und im ukrainischen Butscha, die Kriegsverbrechen in Srebrenica oder die Gräueltaten im irakischen Gefängnis Abu-Ghuraib belegen, dass in Kriegseinsätzen exzessives und völkerrechtswidriges Foltern und Töten nicht auszuschließen ist. Der Militarist mag diesen Sachverhalt zwar beklagen, seine gewaltbereite Logik bedeutet jedoch, dass derartige Kriegsrechtverstöße zur weltweiten Praxis gehören und sich ohne einen Bruch mit der Logik nicht verhindern lassen.
Da der gemäßigte Pazifist sämtliche Zukunftsszenarien mit deren Vor- und Nachteilen in seine Beurteilung eines Kriegsgeschehens einbezieht, prägte der Friedensnobelpreisträger Norman Angell (1933) den Begriff eines rationalen Pazifismus. Der Philosoph Olaf Müller spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit, sich ausgiebig mit den sogenannten „Wenn-Dann-Sätzen“ auseinanderzusetzen. Der Verweis auf eine rationale Herangehensweise in Bezug auf Friedens- und Kriegspolitik entspricht weitgehend dem bereits genannten Konzept der Verantwortungsethik, das Max Weber2 dem vermeintlich tugendhaften Berufspolitiker zuordnet. Die Realität lässt jedoch den ausnahmslos positiven Charakter des Volksvertreters nicht zu und verweist somit auf die Möglichkeiten widersprüchlicher und irrationaler Verhaltensmuster der Politik. Gerne erheben wertegeleitete Politiker den moralischen Finger, ohne sich selbstreflexiv zu fragen, ob auch sie den geforderten Ansprüchen der Vernunft und Moral gerecht werden.
Reaktion auf Kriegsausbruch
Nachdem einige Aspekte der Entstehungsphase und Kriegsplanung skizziert wurden, stellt sich die Frage, was geschieht, wenn ein Angriffskrieg tatsächlich ausbricht. Hier sei zu unterscheiden, ob der Angriff das eigene Land oder ein fremdes betrifft. In beiden Fällen beschert es dem Pazifisten ein Dilemma. Wird sein Land angegriffen, muss er sich entscheiden, mit Waffen den Feind abzuwehren oder sich als Kriegsdienstverweiger aus Gefechten fernzuhalten. Der radikale Pazifist plädiert konsequent dafür, nicht zu kämpfen und sich dem Angreifer nur mit passivem Widerstand zur Wehr zu setzen. Beim moderaten Pazifisten bleibt die Frage offen, da für ihn Mitmachen oder Verweigerung zur Gewissensfrage wird und er letztlich eine der beiden Möglichkeiten wählen kann. Wenn dagegen ein fremdes Land völkerrechtswidrig angegriffen wird, stellt sich für Pazifisten die kritische Frage, ob sie einer militärischen Unterstützung des Angegriffenen zustimmen. Der radikale Pazifist wird die Frage mit einem kategorischen Nein beantworten, während der moderate Pazifist zögert und argumentiert, eine militärische Unterstützung könne den Kriegsverlauf eskalieren und verlängern. Der pflichtbewusste und gehorsame Militarist zeigt in beiden Szenarien geringere Skrupel, denn seine Logik besagt, der rechtswidrige Angriff muss in jedem Falle mit einer entsprechenden Verteidigung zurückgewiesen werden, „koste es was es wolle“.
Bei seinen Erwägungen, einen angegriffenen Staat zu unterstützen, ist sich der Pazifist zwar über dessen prekäre Lage bewusst, in seinen Abwägungen achtet er jedoch auch auf dessen Staatsform und Menschenrechtslage. Es ist aus politischen und ideologischen Gründen einfacher, eine demokratische Regierung mit Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen als einen Diktator. Da sich der gemäßigte Pazifist weniger emotionalen und gesinnungsethischen Gefühlen hingibt, sondern versucht, auf nüchterne Weise die Ausgangslage zu verstehen, hadert er und macht sich die Entscheidung zugunsten einer Unterstützung des Angegriffenen schwer. Trotz des Unrechts, wägt er ab, wie gut die Chancen stehen, den Angreifer zurückzuschlagen. Er fragt sich, wie die entsprechende Zerstörung ausfällt, wenn der Krieg durch die militärische Unterstützung verlängert wird. Wie immer seine Entscheidung in dieser Zwangslage ausfällt, er empfindet sie immer als unbefriedigend, denn es handelt sich um ein moralisches Dilemma von Tragweite: Unrecht und politische Freiheitsberaubung stehen dem Überleben, der körperlichen Unversehrtheit und Freiheitverlust durch Elend gegenüber. Wie Bertrand Russell argumentierte, kann der rationale Pazifist nach längerem Überlegen eine Entscheidung fällen, die mit der Position des Militaristen übereinstimmt. Für Letzteren fällt die Antwort relativ leicht: Er wählt aus emotional-moralischen Gründen und auf dogmatischer Basis der Kriegslogik den kriegerischen Einsatz, um Recht und politische Freiheit für den Angegriffenen zu sichern. Bei ihm kommen kaum Zweifel an seiner Entscheidung auf.
Trotz der Möglichkeit des moderaten Pazifisten, unter Umständen einem Verteidigungskrieg zuzustimmen, unterscheidet er sich vom Militaristen in zweierlei Hinsicht. Er stellt erstens das Kriegsgeschehen in einen breiteren Kontext, der neben ethischen Erwägungen historische und geopolitische Aspekte berücksichtigt. Auf dieser Grundlage fordert er von neutralen Vermittlern, parallel zum Kriegsgeschehen für Dialog und Verhandlungen der Kriegsparteien zu sorgen. Der Militarist bezieht sich dagegen auf die einseitige Forderung an den Aggressor, sich zurückzuziehen. Damit überlässt er das Austarieren der Verhandlungsmöglichkeiten ausschließlich den Kriegsparteien und trägt somit womöglich dazu bei, dass sich der Kriegsverlauf länger hinzieht.
Der Militarismus zeichnet sich im Gegensatz zum moderaten Pazifismus dadurch aus, dass er Formen der Kontextualisierung ablehnt. Er greift aus gesinnungsethischen und dogmatischen Motiven in Kriegsgeschehen ein, ohne auf historische, kulturelle, landesinterne oder geopolitische Gegebenheiten zu achten. Daher ist er bereit, moralische Widersprüchlichkeiten in Kauf zu nehmen. Es mag berechtigt sein, sich über Unrecht und Gewalt anderer zu beschweren, doch wie steht es mit seiner eigenen Vergangenheit? Derjenige der unrechtmäßige Kriege führt, verliert in besonderem Maße an Glaubwürdigkeit, wenn er sich über vergleichbar rechtswidriges Verhalten anderer echauffiert. Er wird behaupten, die damaligen Situationen und Motive waren so anders, dass sie einen direkten Vergleich nicht zulassen. Die Geschichtsschreibung belegt jedoch, dass diese Argumentation fadenscheinig ist, denn egal, ob Feind oder Freund, die Verhaltensmuster der Kriegsführenden unterscheiden sich weltweit in ihrer Gewaltbereitschaft und Brutalität nur geringfügig.
Die internationale Reaktion und Einordnung von Angriffskriegen verläuft somit sehr unterschiedlich. Ethische Belange, geopolitische Faktoren und internationale Bündnisse bedeuten meist, dass völkerrechtswidrige Angriffe von Teilen der internationalen Gemeinschaft je nach Grad der Interessensbeziehung widersprüchlich gehandhabt werden. Trotz allgemeinem Unrecht und Leid wird zwischen einem vertretbaren Angriff und einem inakzeptablen unterschieden. Sowohl der amerikanische Angriffskrieg im Irak 2003, als auch der russische Angriff auf die Ukraine beruhten auf dem Ziel des Regime Change, einer Ablöse der existierenden Regierung mit Gewalt. Für Pazifisten entspricht jeder Angriffskrieg einem abzulehnenden Rechtsverstoß. Militaristen sind dagegen etwas vager. Für den Sturz eines Diktators sei daher ein rechtswidriger Angriffskrieg vertretbar. Für Militaristen gilt je nach Umstand das machiavellistische Motto, für das Streben nach Macht, geopolitischer Hegemonie oder zugunsten ideologischer Wertvorstellungen sei jedes Mittel erlaubt, unabhängig von Recht und Moral. Um die damit verknüpfte Heuchelei zu verdeutlichen, sei der durch vietnamesische Truppen erzwungene Regierungswechsel im Kambodscha in 1979 erwähnt. Nach längeren Grenzstreitereien vertrieben sie das durch die US-Bombar-dierung geschaffene Terror-Regime der Roten Khmer und installierten in Phnom Penh eine neue moderate Regierung unter Heng Samrin. Trotz des Massenmords eines Drittel der Bevölkerung durch die Roten Khmer, bekannt unter dem Begriff der „Killing Fields“, erkannten die westlichen Länder und Vereinten Nationen weiterhin Pol Pot und seine Roten Khmer Schergen bis 1989 als legitime Vertreter Kambodschas an.
Öffentlicher Diskurs
Abschließend sei auf einen kommunikativen Aspekt hingewiesen. Es ist deutlich häufiger der Pazifist, der die Feststellung macht, die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges. Die Tatsache, dass Kriegsparteien regelmäßig Halbwahrheiten oder gar Lügen über den Verlauf der Geschehnisse auf dem Schlachtfeld verbreiten, mag verständlich sein. Problematisch wird die Angelegenheit, wenn die Leitmedien und der seriöse Journalismus diese Informationsfragmente als faktische Gegebenheiten behandeln und daraufhin über zukünftige Weiterentwicklungen des Kriegsgeschehens spekulieren. Der zweifelnde Pazifist nimmt in der Regel Abstand von dieser meist sensationsgetriebenen Berichterstattung und gesinnungsethischen Auseinandersetzung. In dieser Hinsicht grenzt er sich vom gängigen Gedankengut der Kriegslogik ab und bleibt mit seiner skeptischen und kritischen Haltung ein Außenseiter.
Literatur
1. Müller, Olaf (2022): „Pazifismus. Eine Verteidigung“, Reclam, 2022
2. Weber, Max (1919): „Politik als Beruf“, Reclam, 1992