Kapitalismuskritik oder Markt- und Staatsversagen?
Wirtschaft, October 23, 2023
Über qualitative Eigenschaften der liberalen Marktwirtschaft wird seit einigen Jahrhunderten diskutiert. Diesbezüglich verweisen immer wieder Kommentatoren, wie etwa der Gesundheitsforscher Hans Rosling1, auf die Errungenschaften dieses Wirtschaftssystems: Mehr Wohlstand und höhere Lebensqualität für große Teile der Menschheit durch Innovationen und technischen Fortschritt. Mittlerweile sind die Prinzipien der „freien“ Marktwirtschaft mit ihren zentralen Charakteristika der persönlichen Freiheit, des Privateigentums und des Wettbewerbs international anerkannt und werden weltweit auf unterschiedliche Weise angewandt. Dennoch leidet die liberale Marktwirtschaft unter erheblichen Problemen und lässt sich vielleicht somit als erfolgreichstes aller fehlerhaften Systeme der Neuzeit beschreiben. Im Folgenden konzentrieren wir uns nur auf die Schwachstellen der liberalen Marktwirtschaft und wie mit ihnen in öffentlichen Debatten umgegangen wird. Die hier präsentierte These lautet, dass der klassische Begriff des Kapitalismus für Erklärungen aktueller Wirtschaftsprobleme zu ungenau ist und somit kaum über praxisnahe Anwendbarkeit verfügt. Im Gegensatz dazu bieten die wirtschaftswissenschaftlichen Konzepte des Markt- und Staatsversagens ein deutlich breites Spektrum der Ursachen für Probleme und Missstände in der Wirtschaft. Beide Konzepte sind nicht nur präziser, sondern gemeinsam aussagekräftiger, zielführender und praktisch bedeutsamer als der plakative Begriff des Kapitalismus.
Zunächst fällt auf, dass obwohl in medialen und akademischen Debatten über wirtschaftssystemische Fragen der Begriff des Kapitalismus regelmäßig fällt, die notwendigen Erläuterungen fehlen, was damit gemeint sein könnte. Es wird ausnahmslos angenommen, dass sich Mitdiskutierende, Zuhörer, Zuschauer oder Leser mit dieser Materie und ihrer zeitgemäßen Bedeutung auskennen. Diese Prämisse ist jedoch fehlerhaft. Sogar in den relativ kleinen Kreisen von Akademikern und Intellektuellen, die überwiegend den Kapitalismusbegriffs nutzen, herrscht Unklarheit über die Beschaffenheit und heutige Relevanz dieses Gesellschaftskonzepts. Abgesehen von der deutlich negativen Konnotation stellt dessen begriffliche Unschärfe ein kommunikatives Problem dar, denn der Gebrauch einer ideologisch gefärbten Floskel erschwert oder verhindert konstruktive Diskussionen. Der Verweis auf den Kapitalismus dient vordergründig der Kritik am existierenden System der liberalen Marktwirtschaft, er ist jedoch gleichzeitig Ausdruck diffuser Skepsis, Verunsicherung und Ablehnung. Eine Ausnahme bildet womöglich die USA, denn dort hat der Begriff des Kapitalismus längst nicht das einseitig negative Image wie in Europa. Er wurde im Rahmen des kalten Kriegs eng mit dem Staatssystem der liberalen Demokratie in Verbindung gebracht und als ideologisches Alternativmodell zum Kommunismus propagiert. Im angelsächsischen Raum sprechen daher heute noch viele Kommentatoren ohne Werturteil vom Kapitalismus, wenn sie das System der freien Marktwirtschaft meinen.
Der dehnbare Begriff des Kapitalismus wirft somit kritische Fragen auf: Was hat es mit diesem Konzept auf sich? Was ist unter freier Marktwirtschaft zu verstehen? In welchem Maße überschneiden sich die Grundgedanken des Kapitalismus und der liberalen Marktwirtschaft? Welche Bedeutung kommt der modernen Volkswirtschaftslehre mit dem Konzept des Marktversagens zu? Entsprechen Kapitalismuskritik und Marktversagen gleichen Konzepten? Welche Rolle spielen in dieser Angelegenheit der Staat und dessen vergleichbare Form des Staatsversagens? Oft werden die Begriffe des Kapitalismus und des Neoliberalismus in einem Atemzug genutzt, doch inwiefern passen beide Aspekte zusammen? Im Folgenden soll diesen übergeordneten Fragen nachgegangen werden.
Kapitalismus
Es besteht kein Zweifel, dass sämtliche Wirtschaftssysteme Schwachstellen und Probleme mit gesellschaftsschädlichen Folgen aufweisen. Um diesen Sachverhalt zu erläutern erscheint es sinnvoll, zuerst die von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste Gesellschaftslehre des Kapitalismus zu skizzieren. Knapp formuliert beruht sie auf der Beschreibung ausbeuterischer Produktionsverhältnisse während der Industrialisierung Großbritanniens im 19. Jahrhundert. Marx zufolge lag die zentrale Ursache für derartige Missstände in der Macht des Privateigentums weniger Produzenten zu Lasten der Arbeiterschaft. Die Prozesse der Arbeitsteilung verhalfen unternehmerischen Kapitalisten, mit dem Aufkommen industrieller Technologien einen durch Arbeit geschaffenen Mehrwert für sich alleine zu verbuchen. Daraus leitet sich das Argument ab: Wer über Geld und Kapital verfügt besitzt die Möglichkeiten, auf dem Rücken der Arbeiterschaft Gewinne und mehr Vermögen zu generieren. Diese „marxistische“ Erkenntnis war jedoch schon damals nicht neu, denn bereits zuvor hatte der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon Kritik an Eigentumsverhältnissen geäußert und den Spruch „Eigentum ist Diebstahl“ geprägt. Während Proudhon partielle Veränderungen anstrebte, um für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, argumentierten Marx und Engels, die Überwindung der gesellschaftlichen Maxime des unternehmerischen Gewinnstrebens und die entsprechende Entfremdung der Arbeiter könne nur in Form einer revolutionären Erhebung der Arbeiterklasse geschaffen werden. Das Ziel sei, Kapitalisten zu enteignen und deren Produktionsmittel in Gesellschaftseigentum zu überführen.
Mit seiner apodiktischen Auffassung historisch bestimmter Konflikte zwischen Arbeitern und Kapitaleignern vertrat Marx eine Perspektive, die sich ausschließlich auf materielle Zustände und Sachverhalte bezog und daher als historisch-ökonomischer Determinismus bezeichnen lässt. Demzufolge basieren gesellschaftliche Entwicklungen nicht auf politischen, rechtlichen oder moralischen Konzepten und Entscheidungen, sondern allein auf Grund des Fortschritts der materiellen Produktionstechniken und dessen finanziellen Ertrags. Da die Früchte unternehmerischer Produktion nur in den Händen der Eigentümer landen, sei das Wirtschaftssystem des Kapitalismus durch den anstehenden Aufstand der Arbeiterklasse zum Scheitern verurteilt. Aus den Trümmern des Kapitalismus entstehe durch die Arbeiterrevolution das Gesellschaftsmodell der Diktatur des Proletariats mit zentralgelenktem Staat und einer entsprechenden Planwirtschaft. Diese würde langfristig zu einem arbeitergeführten Kommunismus führen. Mit dem Konzept eines zwangsläufigen Systemwandels bezeichnete Marx nicht nur die Reformforderungen von Proudhon, sondern auch die der damals aufkommenden Sozialdemokratie und anderer bürgerlichen Emanzipationsbewegungen als illusorisch und unzureichend.
Marxismus heute?
Die marxistische Theorie des Kapitalismus wirft nun die Frage auf, in welchem Maße sie für heutige Zustände der Wirtschaft relevant ist. Hierzu lassen sich im Wesentlichen vier Aspekte nennen. Zunächst verwies Marx auf das deutliche Problem ausbeuterischer Verhältnisse, deren Ursache er ausschließlich im Eigentum und Gewinnstreben der reichen Eliten vermutete. Mit dieser These brachte er das Konzept der Macht ins Spiel, das den Einfluss weniger Personengruppen auf das Wohlergehen der Mehrheit hervorhebt. Dieser marxistische Aspekt ist insofern kontrovers, als er im Gegensatz zu den liberalen Ideen des freien Willens und der Rationalität generell von Abhängigkeiten und Opferrollen der Ausgebeuteten ausgeht. Obwohl die raubritterlichen Zustände der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nur noch bedingt für die modernen Industriestaaten zutreffen, trifft seine Kritik an der Macht der Kapitaleigner, besonders im Konzept des Shareholder Values, immer noch zu. Zudem ist nicht zu bezweifeln, dass der Niedriglohnsektor ein unterprivilegiertes Prekariat schafft. Dieser Zustand betrifft heute kaum noch die meist recht gut bezahlten Industriearbeiter, sondern neben teilweise ausbeuterischen Praktiken in Entwicklungsländern auch einige heimische Wirtschaftbereiche, etwa im Dienstleistungssektor. Zusätzlich ergibt sich seit einigen Jahrzehnten ein moderner Armutsfaktor aus sozioökonomischen Entwicklungen der Individualisierung und Immigration. Dieser Trend schlägt sich insbesondere in den existenziellen Problemen Alleinerziehender und Menschen mit ausländischer Herkunft nieder. Da Karl Marx das Thema Armut explizit in den Vordergrund rückte, wird es in öffentlich-medialen Debatten meist pauschal und oft irrtümlich dem ausbeuterischen Kapitalismus zugeordnet. Die Ursachen für soziale Missstände und Armut der Gegenwart sind deutlich komplexer, als sie in einem einfachen Konzept zusammenzufassen sind.
Zu Zeiten Karl Marx spielte die Thematik der Umwelt und ihrer Verschmutzung kaum eine Rolle. Dennoch wird in dieser Hinsicht der Marxismus mit seiner These herangezogen, das Konzept einer steten Akkumulation des Kapitals zugunsten des Unternehmers entspräche einem Wachstumszwang, der langfristig der Umwelt und dem Klima schade. Dieser Aspekt ist durchaus von aktueller Brisanz, da er die Kontroverse der Transformation hin zu grünem Wachstum anspricht: Kann ein gemäßigtes Wirtschaftswachstum gelingen, das mit ökologisch-neutralen Technologien die Umwelt schont und den Klimawandel aufhält? In ihren Bestsellern lautet die Antwort der Journalistin Ulrike Herrmann2 und des japanischen Philosophen Kohei Saito3 ein klares „Nein“. Mit ihrer marxistisch apokalyptischen Prognose sagen beide auf Grund des vermeintlichen Wachstumszwangs den Kollaps des Kapitalismus voraus. Beide fordern daher als Lösung einen autoritär gearteten Ökosozialismus, der auf Rationierung und verschärften Formen staatlicher Wirtschaftsplanung beruht.
Vor dem Hintergrund der noch nicht eingetretenen Prognose von Marx erscheint die heute noch vertretene These eines völligen Zusammenbruchs des aktuellen Wirtschaftssystems nicht nur bedrohlich, sondern auch äußerst spekulativ. Deswegen pflegen Politik und viele Wissenschaftler eine differenziertere Position. Diese mag unter den aktuell verheerenden Entwicklungen des Klimawandels nicht unbedingt optimistisch ausfallen. Sie schließt jedoch nicht aus, dass technologische Innovationen und staatliche Maßnahmen sowie demografische und soziokulturelle Faktoren dazu betragen können, die Energiewende zu beschleunigen und Entwicklungen hin zu einer grünen Wirtschaft mit geringem Wachstum voranzutreiben. Auch wenn Prognosen der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Klimawandels düster ausfallen, bleibt der Menschheit nichts anderes übrig, als vernünftige Gegenmaßnahmen zu treffen. Möchte man an demokratischen Entscheidungsprinzipien festhalten, bietet das Konzept eines zentral geführten Ökosozialismus mit staatlichen Verhaltensvorgaben zur Einhegung des Wachstums zwar ein abstraktes Gedankenspiel, als realistisches Modell erscheint es dagegen illusorisch. Derartige Debatten mögen von akademischem Interesse sein, sie sind im Staatssystem liberaler Demokratien jedoch kaum zielführend und durchführbar. Außerdem kann nicht ausnahmslos davon ausgegangen werden, dass Abflachungen oder Einbrüche im Wirtschaftswachstum zwangsläufig zu einem Systemkollaps führen müssen. Die Lage der japanischen Wirtschaft von 1990 bis 2010 dient in dieser Hinsicht als interessantes Beispiel. Sie belegt, dass lange Phasen des Schrumpfens, des Nullwachstums und konjunktureller Stagnationsperioden durchaus ohne Systemsturz und exzessiven Verzichtsmaßnahmen möglich sind.
Hinsichtlich des Kapitalismus spielt heute die Finanzwirtschaft eine bedeutsamere Rolle als im 19. Jahrhundert. Damals speisten sich unternehmerische Investitionen weitgehend aus privaten Vermögen und kaum über Bankkredite und die Kapitalmärkte. Trotzdem wird den intrinsisch spekulativen Geschäften in den Finanzmärkten das vorgeworfen, was bereits Pierre-Joseph Proudhon beklagte: Geld ohne greifbare Ware werde eingesetzt, um mehr Geld zu verdienen. Dieser Aspekt wirft jedoch zwei Fragen auf: Stellen Risiko und Unternehmergeist trotz ihrer immateriellen Beschaffenheit nicht auch einen Wert dar? Obwohl Finanzmärkte unter diversen Missständen und systemimmanenter Instabilität leiden und womöglich als Handlanger des Klimawandels agieren, gibt es realistische Alternativen zur Finanzierung von Wirtschaft und Staat?
Das Werk von Karl Marx mag sich zeitgemäß auf den Begriff der politischen Ökonomie beziehen und dennoch spielt darin nicht nur der Verbraucher als Entscheidungsträger, sondern auch das Staatswesen aus Politik und Verwaltung eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu Staatstheoretikern, wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau, nach denen der Staat das Volk zu vertreten hat, argumentiert Marx, der Staat schütze nur die Machtansprüche der herrschenden Klasse. Er verwalte lediglich die kapitalistischen Geschäfte der Bourgeoisie und unterstütze somit deren Unterdrückung des Proletariats. Diese Position wird heute in abgeschwächter Form immer noch vertreten, etwa im Kontext des Lobbyismus und der These, Politiker entsprächen Marionetten des Kapitals. Ihr Auftreten und Handeln diene nur den Wirtschaftsinteressen der Kapitalisten.
Marx und die Wirtschaftswissenschaft
Karl Marx hob stets hervor, sein Werk beruhe ausschließlich auf Wissenschaftlichkeit. Diese Selbstgefälligkeit führte dazu, heftige Kritik an Proudhon zu äußern und dessen Thesen als Utopien abzustempeln, obwohl er selber wichtige Aspekte davon übernahm. Seine überhebliche Selbsteinschätzung als Wissenschaftler ist aus vier Gründen erwähnenswert:
Erstens konnte sich Karl Marx zu seiner Zeit nur auf die klassische Wirtschaftstheorie des Philosophen Adam Smith und Ökonomen David Ricardo beziehen. Mit den erweiterten Erkenntnissen der Neoklassik von Léon Walras und Vilfredo Pareto befasste sich Marx bereits nicht mehr. Eine frühe Beschreibung des liberalen Marktsystems bot Alfred Marshall, ein Mitbegründer der Neoklassik und Verfasser des ersten Wirtschaftslehrbuchs im Jahr 1890. Aus Sicht der modernen Ökonomik haben wir es Mitte des 19. Jahrhundert mit sehr frühen und entsprechend einfachen Wirtschaftsmodellen zu tun, die durchaus kritikwürdig sind. Sie vermieden eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit und gaben daher Marx einen berechtigten Anlass, sich der Rolle der Arbeiterklasse anzunehmen. Seine Schwäche lag zweitens darin, dass er als Fundamentalkritiker auftrat und mit dem Kapitalismus eine rein monokausale Ursache der Marktprobleme entwickelte. Schon damals wurde kritisiert, dass seine Erklärungen für wirtschaftliche Missstände zu einseitig und unterkomplex ausfielen. Da sich Marx neben seiner Betätigung als theoretischer Autor, auch als politischer Journalist und Protagonist für die anstehende Arbeiterrevolution verstand, musste drittens seine wissenschaftliche Neutralität schon damals infrage gestellt werden. Die wissenschaftliche Fehlerhaftigkeit des Marxismus liegt nicht nur in seiner einseitigen Perspektive, die Gründe für materielle Ungerechtigkeit ausschließlich bei der Bourgeoisie zu suchen, sondern auch in der apodiktischen Prognose des anstehenden Kollapses der Marktwirtschaft durch den Aufstand der Arbeiterklasse. Dadurch, dass er die evolutionären Entwicklungen der wachsenden Reformbewegungen zu seiner Zeit zwar beobachtete, sie aber als irrelevant abtat, verletzte er viertens zentrale Voraussetzungen für Wissenschaftlichkeit: Aufnahmebereitschaft, rationaler Umgang mit Eventualitäten und Bescheidenheit. Später setzte Lenin die revolutionären Erwartungen und Forderungen von Marx und Engels mit den bekannten Folgen in die Tat um.
Da sich der Wissensstand der Wirtschaftsdisziplin im 19. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen befand, kann man Karl Marx für seine Kritik an der klassischen Theorie nur bedingt beanstanden. Anders ist es dagegen mit heutigen Vertretern des Marxismus, die sich über die enormen Entwicklungen der Wirtschaftswissenschaften seit Beginn des 20. Jahrhundert ausgiebig informieren können. Nicht nur befassen sich fast ausschließlich Nicht-Ökonomen mit dem Phänomen des Kapitalismus, ihre Wirtschaftskompetenzen reichen meist nicht über die Neoklassik oder gegebenenfalls über den frühen Keynesianismus der 1930er Jahre hinaus. Heutige Kommentare zum Kapitalismus beruhen auf wirtschaftsbezogenen Kenntnissen, die weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammen. Dazu zählt Ulrike Herrmann, die zwar das „Versagen der Ökonomen“ beklagt, sich jedoch kaum mit den Entwicklungen der Wirtschaftswissenschaften während der letzten fünfzig Jahre auszukennen scheint. Auch Kohei Saito hält es für notwendig, die Forschung des Nobelpreisträgers William Nordhaus4 zurückzuweisen, obwohl dieser sich bereits in den frühen 1990ern intensiv mit wirtschaftspolitischen Problemen und Maßnahmen hinsichtlich des Klimawandels befasste. Im Folgenden soll daher ein Blick auf ein paar moderne Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft geworfen werden, um das marxistische Konzept des Kapitalismus anhand der alternativen Begriffe des Markt- und Staatsversagens qualitativ einzuordnen.
Kapitalismus oder Marktversagen?
Karl Marx kritisierte die klassische Markttheorie aus Gerechtigkeitsgründen. Da die frühen Thesen von Smith und Ricardo zunächst als abstrakte Erklärungsansätze für die Existenz und Funktionsfähigkeit der Märkte diente, spielten zu ihrer Zeit Fragen der Gerechtigkeit keine Rolle. Zur Beschreibung der Beschaffenheit von Gütermärkten zählten das Zwischenspiel von Angebot und Nachfrage, der freie Zutritt für Unternehmer, die Annahme individueller Rationalität aller Wirtschaftsakteure, die Kräfte des Wettbewerbs und das daraus entstehende Gleichgewicht, das zur Einhegung von Monopolen führe. Mit den Merkmalen der Innovationskraft, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit illustrierte die Neoklassik als Einstieg in die Ökonomik den Vorteil eines wettbewerbsbasierenden Wirtschaftssystems. Während bei Marx der wertschöpfende Angestellte im Vordergrund steht, macht der durch Konkurrenz herbeigeführte Preisdruck den Verbraucher zum Hauptgewinner der freien Marktwirtschaft. Obwohl das Narrativ einer liberalen Marktwirtschaft aussagekräftig ist und heute weltweit als Vorbild existierender Wirtschaftsysteme dient, entspricht es einem einfachen Ideal, dass durchaus kritikwürdig ist. Anstatt der marxistischen Position, diesen Marktansatz vollkommen zu verurteilen, entwickelten spätere Ökonomen Theorien, die sich punktuell mit dessen fehlerhaften Annahmen und Auswirkungen befassen. Heutzutage gilt somit der folgende Leitgedanke: Missstände in der Wirtschaft beruhen auf sehr unterschiedlichen Ursachen und benötigen staatliche Regulierungsmaßnahmen, die mit den Mitteln der Wirtschaftspolitik wichtige Kontroll- und Korrekturfunktionen ausüben. Dieser Ansatz grenzt sich deutlich vom marxistischen Gedanken eines radikalen Systemwandels ab.
Wie sämtliche Sozialwissenschaften ist die Volkswirtschaftslehre oder Ökonomik eine heterogene Disziplin. So existieren Vertreter marktlibertärer oder marktfundamentalistischer Ansichten, die sich stark an der Neoklassik ausrichten. Dagegen befürworten die meisten Ökonomen moderne Variationen des Keynesianismus, deren marktkritische Positionen über Jahrzehnte weiterentwickelt wurden. Die meisten Lehrbücher befassen sich somit mal mehr, mal weniger mit den Schwächen der freien Marktwirtschaft unter dem Konzept des Marktversagens. Knapp formuliert handelt es sich dabei um problematische Verhaltensmuster der Wirtschaftsakteure und marktbedingte Sachverhalte, die dem Gemeinwohl schaden. Obwohl die Liste der Ursachen5 vielschichtig ausfällt, werden in der Standardökonomik meist fünf Phänomene aufgeführt. Darunter fällt zunächst das Problem ungleicher Informationsstände, das auf den Wissensnachteil etwa des Verbrauchers gegenüber einem Produzenten oder Dienstleister hinweist. Darüber hinaus bergen in Abweichung vom Idealfall des Marktsystems Monopole, wie die amerikanischen Internetriesen, einen potentiellen Schaden für den Verbraucher und die Gesellschaft. Ein drittes Marktproblem entsteht durch irrationales Handeln der Wirtschaftsakteure. Obwohl die Ursachen dafür je nach Marktaspekt unterschiedlich ausfallen, spielt das sozialpsychologische Phänomen des Herdentriebs oft eine wichtige Rolle als Verstärker.
Womöglich der Klassiker des Marktversagens fällt unter den Begriff externer Effekte. Dieser Aspekt beschreibt eigennützige Verhaltensmuster der Verbraucher und Unternehmen, die schädliche Nebeneffekte verursachen. Diese werden dadurch externalisiert, dass sich die entstandenen Kosten auf die Gesellschaft übertragen lassen. Die zweifellos wichtigste Variante externer Effekte bezieht sich auf die Verschmutzung der Umwelt mit den entsprechenden Folgeschäden für Natur, Klima und Mensch. Da bereits Fach- und Lehrbücher seit den 1960ern oder der Club of Rome in 1972 diese Form des Marktversagens thematisierten, kann nicht behauptet werden, es handle sich um Neuentwicklungen jüngster Zeit. Dieser Punkt wird besonders durch den Ökonom Cecil Pigou6 verdeutlicht, der schon im Jahr 1920 auf das Problem der Luftverschmutzung durch Unternehmen verwies und zur Korrektur eine entsprechende Steuer forderte. Die sogenannte Pigou-Steuer zur Internalisierung der anfallenden Kosten für die Gemeinschaft entspricht dem Konzept der heutigen CO2-Steuer. Dieser Hinweis wirft nun wichtige Fragen auf: Warum wird das Thema der Umweltverschmutzung erst dann in öffentlichen Foren ernsthaft diskutiert, wenn es mit dem Klimawandel fast zu spät ist? Wo bleibt der Staat, wenn er gefordert ist, zu handeln? Warum kennt im Vergleich zu Marx kaum jemand den weitsichtigen Pigou? Während dieser Ökonom ein spezifisches Problem mit konkreter Lösung versieht, wie realitätsnah ist Marx mit seiner Kapitalismuskritik und dem Ruf nach revolutionärem Systemwandel? Cecil Pigou gilt als Mitbegründer der Wohlfahrt- und Verhaltensökonomik, die sich kritisch mit dem freien Marktsystem befasst. Im Kontext der heutigen Umweltkrise ist sein Beitrag auch deshalb bedeutsam, weil er bereits damals verdeutlichte, dass Ökonomen versuchen, sachbezogen, kritisch und punktuell lösungsorientiert zu arbeiten. Karl Marx trat dagegen hauptsächlich als Kritiker auf und somit verblasst seine pauschale Forderung eines völligen Systemwandels vor den realitätsnahen und reformsuchenden Ansätzen engagierter Ökonomen.
Der Verweis auf die Wohlfahrtökonomik erlaubt es abschließend, eine weitere Form des Marktversagens zu benennen. Die liberale Marktwirtschaft verfügt über zwei systembedingte Schwachstellen. Erstens ist sie nicht in der Lage, einige Güter flächendeckend anzubieten. Hierbei handelt es sich einerseits um strategische Infrastrukturgüter, etwa in den Bereichen des Transportwesens, der Telekommunikation oder der Strom-, Wasser und Wärmeversorgung. Andererseits kann der freie Markt über den Preismechanismus immaterielle Güter, wie Sicherheit, Gesundheit oder Bildung nicht ausnahmslos gewährleisten. In beiden Fällen ist der Staat gefordert, diese öffentlichen Güter bereitzustellen.
Das zweite Problem ergibt sich aus der marktimmanenten Bedeutung der Leistung als zentrales Kriterium für die Vergütung von Arbeit. Abgesehen davon, dass Leistung häufig schwer zu quantifizieren ist, unterscheidet sich dieses Konzept vom ideellen Gedanken des Bedürfnisses, das Karl Marx propagierte. Das liberale Marktsystem leidet somit unter einem intrinsischen Ungerechtigkeitsproblem. Auf Grund der Tatsache, dass Menschen mit unterschiedlichen Einkommen und Vermögen ausgestattet sind, kann die moderne Marktwirtschaft aus eigener Kraft die Schere zwischen Armut und Reichtum nicht ausreichend reduzieren. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang vom Problem ökonomischer Ungleichheit. Auch hier ist der Staat gefordert, mit angemessenen Korrekturmaßnahmen einzugreifen7.
Wirtschaftspolitik und Staatsversagen
Die knappe Skizze einiger Formen des Marktversagens belegt zunächst, dass die Ursachen für Probleme der freien Marktwirtschaft äußerst vielschichtig ausfallen und sich nicht nur auf ausbeuterisches Verhalten einiger Kapitalisten reduzieren lassen. Es wurde bereits erwähnt, dass in Abwesenheit eines revolutionären Systemwandels der Staat verpflichtet ist, mit angemessener Wirtschaftspolitik eine Kontroll- und Korrekturfunktionen zu übernehmen, um ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Missständen der freien Marktwirtschaft entgegenzuwirken. Ein erheblicher Vorteil des wissenschaftlichen Konzepts des Marktversagens besteht folglich darin, dass sich daraus zwangsläufig wirtschaftspolitische Maßnahmen ableiten lassen. Vereinfacht fallen in den Bereich staatlicher Wirtschaftspolitik drei wesentliche Funktionen: Erstens zählt dazu die Daseinsvorsorge und Bereitstellung öffentlicher Güter. Zweitens müssen Politik und staatliche Behörden direkt ins Marktgeschehen eingreifen, um mit Regulierung und Anreizen Fehlverhalten zu unterbinden. Drittens bedarf es der Sozialpolitik, damit das Gerechtigkeitsproblem der liberalen Marktwirtschaft durch Transferleistungen zumindest teilweise entschärft wird. Obwohl das Konzept der Sozialpolitik international unterschiedliche Prägungen aufweist, war es der deutsche Ökonom Alfred Müller-Armack8, der 1946 den Begriff der sozialen Marktwirtschaft schuf. Er betrachtete sie als Mischform der freien Marktwirtschaft und sozialistischen Planwirtschaft.
Ein weiterer Vorteil des Konzepts des Marktversagens ergibt sich aus den Beobachtungen, dass sich die Ursachen für Fehlentwicklungen in der Wirtschaft mühelos auf das Staatwesen anwenden lassen9. Auf Grund von Ignoranz, Egoismen, Wettbewerbsdruck und bürokratischen Hürden tragen Politik und öffentliche Verwaltung zu Fehlentwicklungen bei, die dem Gemeinwohl schaden und somit unter den Begriff des Staatsversagens fallen. In Bezug auf staatliche Regulierungsmaßnahmen kann von politischem und behördlichem Versagen gesprochen werden, wenn diese entweder vermieden, fehlerhaft konzipiert oder mangelhaft umgesetzt werden. Angewandt auf den Umweltschutz lassen sich in dieser Hinsicht drei Aspekte nennen: Zunächst müssen Probleme erkannt und definiert werden, um eine fundierte Diagnose zu erstellen. Hier boten Klimaforscher über Jahrzehnte wissenschaftliche Fakten, die den nahenden Klimawandel voraussagten. Es dauerte lange, bis sich dieser Wissensstand in der Politik durchsetzte und sie letztlich zwang, Gegenmaßnahmen oder Therapien zu entwickeln. Wie die aktuelle Umweltpolitik verdeutlicht, leidet der Staat heute weniger unter dem Problem, was getan werden sollte, sondern wie sich die Maßnahmen zur Gestaltung der Energiewende umsetzen lassen. Das Suchen nach Ursachen und Lösungen der Klimakrise verdeutlicht einen zentralen Sachverhalt: Markt- und Staatsversagen verhalten sich wie zwei Seiten einer Medaille. Einfache Kapitalismuskritik mag populär sein, sie greift hier jedoch deutlich zu kurz.
Die analytische Auseinandersetzung mit dem Konzept des Marktversagens zeigt einen wichtigen Aspekt auf. Einerseits braucht der moderne Staat die materielle Wertschöpfung der Wirtschaft als Einnahmequelle, während umgekehrt die moderne Marktwirtschaft den Staat als Legitimationsinstanz, Regulator und Architekt des Ordnungsrahmens benötigt. Wir haben es also mit gegenseitigen Abhängigkeiten von enormer Tragweite zu tun. Besonders deutlich wird dieses Verhältnis in der Abhängigkeit des Staates von den Finanzmärkten: Sollte öffentliche Verschuldung politisch gewollt sein, bleibt ihr bei heutigen Finanzierungsvolumen keine andere Wahl, als sich auf die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Anleihemärkte einzulassen. Mit Kapitalismus hat diese staatliche Verknüpfung nichts zu tun, wobei jedoch darauf zu achten ist, dass trotz seiner Abhängigkeit von den Kapitalmärkten der Staat seine Kontroll- und Regulierungsfunktion der Banken nicht vernachlässigen darf.
Im Zusammenhang mit dem Bereich der Wirtschaftspolitik wird oft die Kritik geäußert, der Staat ziehe sich zunehmend von seinen Aufgaben zurück und vertrete somit eine neoliberale Politik. Zunächst sei betont, dass der Neoliberalismus im Collogue Walter Lippmann von 1933 als dritter Mittelweg zwischen dem uneingeschränkten Liberalismus der Neoklassik und dem marxistischen Konzept der Planwirtschaft begrifflich definiert wurde. Er ist also nicht weit von Müller-Armacks Ansatz der sozialen Marktwirtschaft entfernt. Die Tatsache, dass sich kleine Gruppen von Ökonomen, Politikern und Kommentatoren immer wieder zu einer stark marktliberalen Richtung hingezogen fühlen, bedeutet keineswegs, dass eine fundamentale Abkehr der wirtschaftsregulierenden und sozialwirtschaftlichen Rolle des Staates stattfindet. Während beispielsweise die Sozialausgabenquote in 1960 etwa 18% des BIPs ausmachte, liegt sie seit den 1990ern konstant um 30%. Was dagegen für ernsthaften Diskussionsstoff sorgt, ist die Verteilung öffentlicher Ausgaben und die Effektivität der staatlichen Regulierungsfunktion. Aktuelle Diskussionen über Bürokratieabbau belegen, dass Qualitätsdebatten geführt werden müssen und Vorwürfe eines zu schwachen Staats nur dann berechtigt sind, wenn er seinen Aufgaben nur unzureichend nachkommt.
Öffentlicher Diskurs
Die Fragestellung „Kapitalismuskritik oder Markt- und Staatsversagen?“ erforderte zunächst eine Klärung der entsprechenden Konzepte. Für eine oberflächliche und kurzlebige Medien- und Verlagswelt erscheint es dagegen opportun, sich trotz geringer Aussagekraft auf die vagen Floskeln des Kapitalismus und Neoliberalismus zu beziehen. Mit dem Fokus auf konkrete Probleme, Fehlentwicklungen und komplexe Zusammenhänge bieten dagegen die ökonomischen Aspekte des Markt- und Staatsversagens eine informativere Alternative. Sachliche und zielführende Debatten sind somit nur möglich, wenn Pauschalitäten und Skandalisierung durch Fakten und fachliches Wissen ersetzt werden.
Literatur
1. Rosling, Hans et al. (2019): „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“, Ullstein, 2019
2. Herrmann, Ulrike (2023): „“Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden.“, Kiepenheuer & Witsch, 2023
3. Saito, Kohei (2023): „Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“, dtv, 2023
4. Nordhaus, William D. (1994): “Managing the Global Commons: The Economics of Climate Change“, MIT Press, 1994
5. Noebel, Christoph (2021): „Marktversagen: Die ‚unsichere‘ Hand des Marktes“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil II: Wirtschaft“, epubli, 2021
6. Pigou, Arthur Cecil (1920): “The Economics of Welfare”, Macmillan, 1920
7. Noebel, Christoph (2021): „Ökonomische Sozialethik: Markt und Gerechtigkeit“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil II: Wirtschaft“, epubli, 2021
8. Müller-Armack, Alfred (1946): „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, Kastell Verlag, 1990
9. Noebel, Christoph (2022): „Staatsversagen: Die ‚unsichere‘ Hand des Staates“, in „Vertrauen und Verantwortung- Teil III: Staatswesen“, epubli, 2022