Christoph Noebel

Welche Strategien verfolgt Putin?

Staatswesen, October 29, 2025

Mediale Debatten über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine werden aktuell von einer einfachen Argumentationslinie dominiert: Vladimir Putin sei ein gewalttätiger Schurke, Kriegsverbrecher, machthungriger Imperialist und demzufolge ein brutaler Aggressor. Sein Ziel sei nicht nur, die gesamte Ukraine in ein russisches Großreich zurückzuführen, sondern auch Europa und die Nato militärisch anzugreifen. Deutschen Geheimdiensten zufolge könne er in spätestens drei  Jahren einen kriegerischen Angriff auf die Europäische Union und Nato beginnen.

Über die Charakterisierung Putins als völkerrechtswidriger Kriegsverbrecher besteht auf Grund seines Verhaltens kein Zweifel. Doch reichen kritische Zuschreibungen der Persönlichkeit aus, um daraus seine Pläne und Strategien für die Zukunft ableiten zu können? Wer kennt schon die wahren Absichten Putins? Ist es nicht möglich, dass über seine Kriegsbreitschaft hinaus weitere Motive und Strategien sein Handeln bestimmen? Was wäre, wenn sein Kalkül hinsichtlich der Ukraine und Europa komplexer ausfallen würde? Da Debatten über persönliche Motive und zukünftige Szenarien grundsätzlich in den Bereich der Spekulation fallen, ist die Frage berechtigt, ob nicht Putins Strategien in Bezug auf die Ukraine und Europa vielleicht Teil eines umfangreicheren Konzepts entsprächen. Sich mit der Möglichkeit vielfältiger und langfristiger Anliegen Putins zu befassen, ist nicht trivial, denn eine umfassendere Analyse hat zur Folge, dass sich europäische Staaten und die Nato Gedanken über verschiedene Reaktionen und Handlungsweisen machen müssten. Um die Konsequenzen dieses Ansatzes zu erläutern, lassen sich hinsichtlich Putins Beweggründe drei Dimensionen nennen, die ineinandergreifen und vielleicht ein besseres Gesamtbild seiner langfristigen Strategien zeichnen. Eine derartig neutrale Analyse darf natürlich nicht mit einer Rechtfertigung oder gar Verteidigung der Handlungen Putins verwechselt werden.

Als erste Bezugsebene sei sein „nationales“ Bedürfnis genannt, einen Regimewechsel in der Ukraine herbeizuführen. Das Streben nach Regimewechsel und entsprechende Brüche des Völkerrechts sind keine Alleinstellungsmerkmale Putins, denn auch die USA und Europa bewiesen in jüngster Vergangenheit, dass sie sich nicht vor völkerrechtswidrigen Kriegseinsätzen scheuen. Im Falle der Ukraine bleibt noch unklar, in welchem Maße Putins Außenpolitik und aktuelle Kriegsführung mit einer vollkommenen Eingliederung in die russische Föderation einhergehen muss. Obwohl der Angriff auf die Ukraine einem expansiven Plan folgt, dient er gleichzeitig innenpolitischen Zwecken.

Wie viele Spitzenpolitiker und Autokraten, leidet Putin offensichtlich unter Eitelkeit und Selbstüberschätzung, wobei sein Streben nach Aufmerksamkeit und Anerkennung besonders ausgeprägt zu sein scheint. Gepaart mit seiner autokratischen Disposition würde er gerne als “großer Herrscher“ in die Geschichte Russlands eingehen. Als Vorbild dient zunehmend Stalin, der den aggressiven Angriffskrieg der Naziherrschaft abwehrte und aus diesem Grund heute noch in der Bevölkerung historische Bewunderung hervorruft. Putins propagandistischer Bezug zum Nationalsozialismus überrascht somit nicht, denn er weckt aus innenpolitischem Kalkül Vergleiche mit Stalin.

Neben dem national gearteten Motiv, die Ukraine angreifen und erobern zu wollen, lässt sich Putins aggressive „Europapolitik“ als zweiten Aspekt einer breitgefächerten Strategie deuten. Wie der ehemalige Außenminister und heutige Kritiker Putins, Andrei Kosyrew, kürzlich in einem Interview bestätigte, geht es Putin nicht nur um Landgewinn in der Ukraine, sondern um die Destabilisierung Europas. Mit dem militärischen Großangriff auf die Ukraine in 2022 brachte er nicht nur Europa und die Nato in Bedrängnis, es begannen gleichzeitig verstärkte Einsätze „hybrider Kriegsführung“ auf europäische Einrichtungen. Aktuell haben wir es in Bezug auf europäische Mitgliedstaaten der Nato sowohl mit Cyberangriffen; Desinformation und Spionageaktivitäten als auch mit Provokationen durch Luftraumverletzungen durch Drohnen und Kriegsflugzeuge zu tun. Putins Reizpolitik scheint Früchte zu tragen, denn sie schürt allgemeine Verunsicherung in Staaten Europas, auf die politisch mit militärischem Aufzurüsten und entsprechend höherer Staatverschuldung reagiert wird. Ein Problem für europäische Entscheidungsträger besteht somit darin, dass Drohungen Russlands nicht zwangsläufig mit einem zukünftigen Militärangriff einhergehen müssen. Nicht nur bezweifeln internationale Militärexperten die russische Fähigkeit und Sinnhaftigkeit einer kriegerischen Eskalation durch einen Angriff auf Natomitglieder, ein paradoxes Kalkül könnte Putin davor abhalten: Ihm reicht womöglich die ängstlichen Reaktionen in Politik und Medien, etwa durch die reflexartigen Rufe nach „Kriegstüchtigkeit“, um in seinem Sinne für interne Unruhe und Spaltung zu sorgen. Putins Strategie, auf die politische Uneinigkeit sowie auf die fehlenden Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeiten der EU zu spekulieren, wäre nicht ganz abwegig.

Seine offensichtliche Feindseligkeit gegenüber Europa wirft unweigerlich die Frage auf, ob nicht Ereignisse und Faktoren aus der Vergangenheit zur ablehnenden Haltung seit seiner Amtsübernahme als Staatspräsident in Dezember 1999 beitrugen. Obwohl es für Vertreter von Politik, Medien und sogar der Wissenschaften unangenehm erscheinen mag, gilt für den Umgang mit Krisensituationen grundsätzlich die Notwendigkeit, eine umfangreiche Ursachenforschung vorzunehmen. Sollte Interesse an einer Untersuchung des Verhaltens Putins in Bezug auf seine Europapolitik herrschen, lassen sich neben der einfachen Charakterisierung seiner Bösartigkeit zwei weitere Erklärungsansätze nennen.

In internationalen Treffen und Sicherheitskonferenzen verwies Putin stets auf fehlendes Vertrauen ihm gegenüber seitens amerikanischer und europäischer Regierungen. Er beklagte das Ignorieren russischer Interessen, demonstriert durch die fortwährende Osterweitung Europas und der Nato. Hier kommt womöglich eskalierend die in 2014 geäußerte Provokation Barak Obamas ins Spiel, dass Russland nur einer Regionalmacht entspräche. Angesichts der Eitelkeit und Verletzlichkeit des Nationalisten Putins lässt sich sein Angriff auf die Ukraine somit unter anderem als Vergeltung oder Rache gegen die Missachtung und gefühlte Beleidigung der USA und europäischer Staaten ihm gegenüber deuten. Wiederum dient diese Begründung keineswegs einer Rechtfertigung.

Der zweite Impuls für Putins Animosität gegenüber europäischen Staaten ergibt sich aus seiner frühen Skepsis in Bezug auf die Leistungsfähigkeit und Werte der liberalen Demokratie, die sich scheinbar in eine vollkommene Abneigung verwandelte. Heute bezeichnet er diese Staatsform als individualistisch,  verweichlicht, sentimental-moralisch und funktionsunfähig. In der Umsetzung seiner Kriegsführung und Verunsicherungsstrategie kommt ihm daher die zunehmende Verbreitung autokratischen Gedankenguts in Europa zugute, die sich in einer Distanz zur Praxis der Demokratie und im Zulauf extremistischer Parteien niederschlägt. Auch wenn russische Propaganda zu dieser Entwicklung beiträgt, wächst der Zersplitterungsprozess der politischen Landschaft in der EU primär durch interne Probleme: Politische und bürokratische Entscheidungsträgheit, Kurzsichtigkeit und Unbeständigkeit in Europa sind zum Teil auf national kleingeistige Bestrebungen und womöglich auch auf die Kehrseiten des Pluralismus zurückzuführen.

Aus dieser Diagnose lässt sich ableiten, dass Putin nur geringfügige Maßnahmen der Destabilisierung benötige, da es die europäische Politik durch eigenhändiges Handeln  schaffen könne, in der Bevölkerung für Unsicherheit zu sorgen und Vertrauen zu verlieren. Bereits Winston Churchill bezeichnete kritisch die liberale Demokratie als Beste aller schlechten Staatssysteme. Trotz der täglichen Belege für politisches und behördliches Versagen finden differenzierte Debatten über die Schwächen der repräsentativen Demokratie als potentielles Motiv für Putins Strategien kaum statt. Im Gegenteil, europäische Politik vermittelt mit missionarischem Eifer den Eindruck moralischer Überlegenheit. Es gilt die undiplomatische Devise, andere Staatsführende zu kritisieren und sie nach eigenen Wertevorstellungen öffentlich zurechtzuweisen.

Der Aspekt politischer Großmannssucht bietet einen Übergang zur Annahme einer dritten Strategieebene Putins: Sein Beitrag zu „geopolitischen“ Machtverschiebungen. Bereits in 2006 gründeten sich die sogenannten BRIC-Staaten, zu denen neben Russland auch Brasilien, Indien und China zählten, um gemeinsam auf der internationalen Weltbühne aufzutreten und eine politische Gegenposition zu den westlichen G7-Staaten zu bilden. Danach sind mehrere Mitglieder des „globalen Südens“ dazugekommen und stellen nun eine beträchtliche Machtposition in Opposition zum „globalen Westen“ dar, die nicht mehr zu ignorieren ist. Nicht nur im Rahmen der BRICS- Vereinigung, sondern auch als Gründungsmitglied der „Shanghai Cooperation Organisation“ spielen Xi Jinping aus China und der russische Putin eine führende Rolle. Auch die in 2022 von China mit gegründete „International Organization for Mediation“ stellt eine neue Alternative zu vergleichbaren Institutionen des Westens dar und verfügt heute über 38 Mitgliedstaaten. Obwohl die politischen Positionen dieser Gemeinschaften durchaus heterogen ausfallen, verfügt Putin heute über ein geopolitisches Netzwerk, das seine Kriegsführung in der Ukraine und seine Antipathie gegenüber Europa entweder neutral bewertet oder gar befürwortet. Es ist diese breite Kooperation mit Gleichgesinnten, die es Russland ermöglichte, mit Diversifizierung die Einbußen der westlichen Wirtschaftssanktionen deutlich abfedern zu können.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte in westlichen Demokratien eine Stimmung der Euphorie. Der Liberalismus in Form freier Marktwirtschaften und liberalen Demokratien habe sich global als die beste Ideologie bewährt. Das von Francis Fukuyama verkündete „Ende der Geschichte“ symbolisierte die allgemeine Stimmung, dass sich die liberalen Systeme des Westens weltweit durchsetzen würden. In politischen Kreisen der westlichen Demokratien führte diese Haltung zur Überschätzung der eigenen Kräfte und zu moralischem Übermut gegenüber Staaten mit anderen Werten und Staatsformen. Mit dem Fall der Mauer 1989 veränderte sich somit die westliche Außenpolitik von einer generell neutralen und interessengeleiteten Haltung, vertreten durch Henry Kissingers oder Willy Brandts diplomatische Entspannungspolitik, hin zu einer weitgehend wertegeleiteten Politik des Belehrens und Forderns. So ist zum Beispiel Obamas Beleidigung auf Kosten Russlands ein treffendes Beispiel für die unnötige Hybris amerikanischer Politik. Es verwundert nicht, dass heute aus Kreisen des globalen Südens und Russlands behauptet wird, die Zeiten der Demütigungen des Westens seien vorbei.

Insgesamt traf Fukuyamas Prognose nur auf die Ausbreitung der liberalen Marktwirtschaft zu, nicht auf die Ausdehnung liberaler Staatsformen. Nicht nur Länder des globalen Südens und Mitglieder der BRICS-Gemeinschaft verfügen über Staatsformen mit autokratischen Strukturen, auch die USA und mehrere Staaten Europas zeigen zunehmend Veränderungen hin zu Formen illiberaler Demokratien. Diesbezüglich beschreiben die Journalistin Anne Applebaum sowie die Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt eine schleichende Verrohung der westlichen Politik mit autokratischen Tendenzen. Machtspiele schlagen sich in einer Polarisierung der Gesellschaft nieder und beschädigen das Fundament der liberalen Demokratie. Auf den Punkt gebracht, argumentieren die Autoren: Demokratien scheitern nicht nur an der Stärke ihrer Feinde, sondern auch an der Schwäche ihrer Vertreter. Ob es die liberalen Demokratien in Europa langfristig schaffen werden, die innenpolitisch selbstzerstörerischen Prozesse aufzuhalten, bleibt eine offene Frage. In jedem Falle dienen derartige Entwicklungen den Autokraten Putin, Xi oder Modi als Argument für die Schwäche und Doppelmoral des „Westens“. Alleine wegen der großen Bevölkerungsdichte und wirtschaftlicher Macht des „Südens“ wird ihr globaler Einfluss wahrscheinlich wachsen. Diese Entwicklung kann durchaus dazu führen, dass Europa langfristig seine internationale Machtbasis einbüßen wird und in außenpolitische Isolation gerät.

Stimmt man der These zu, dass Putins Strategien in Bezug auf die Ukraine und Europa vielschichtiger ausfällt als das einfache Argument seiner persönlichen Aggression, stellt sich die Frage, wie der Westen darauf zu antworten habe. Aus der multidimensionalen Perspektive unterschiedlicher Strategien, ergibt sich die erste Folgerung: Wie es aktuell Donald Trump vormacht, könne man sich etwas gelassener mit Putins Interessen auseinandersetzen. Dafür bedarf es in Europa und der Nato einer diplomatischen Dialogbereitschaft mit Russland und gleichgesinnten Staaten auf Augenhöhe. Es bedeutet, weniger fordern, mehr zuhören und eigene Interessen mit klaren Worten vortragen. Dieser außenpolitische Verhaltensmodus entspricht dem recht neuen Konzept der „strategic empathy“. Zweitens braucht es mehr Demut und Bescheidenheit im Eingeständnis, dass Europa und die Nato zur aktuellen Konfliktsituation indirekt beigetragen haben. Die Tatsache, dass Putin weltweit über die Unterstützung mächtiger Weggefährten verfügt, die meist ebenso eine Rechnung mit dem Westen offen haben, macht die Angelegenheit schwierig. Die aktuell unberechenbare Politik Trumps sorgt in diesem Zusammenhang für zusätzliche Unsicherheiten und erfordert erst recht diplomatisches Geschick. Drittens wäre es ratsam, Außenpolitik auf einen sachbezogenen Weg zu führen: Die Zeiten öffentlicher Beleidigungen und moralischer Belehrungen müssten enden, um einen vernünftigen Dialog mit Andersdenkenden führen zu können. Dies trifft erst Recht dann zu, wenn sich die Fordernden in einer strategischen Abhängigkeit befinden.

Was bedeutet dieser differenzierte Blick für die Möglichkeit eines Endes des Ukrainekonflikts? Zunächst must hervorgehoben werden, dass dank des enormen Widerstands der Ukrainer mit Unterstützung der Nato die russische Armee nach drei Jahren „nur“ etwa zwanzig Prozent des Landes erobern konnte. Dieser Sachverhalt geht jedoch mit der brutalen Taktik einher, durch Luftangriffe für Zerstörung im ganzen Land zu  sorgen. Für ein Ende des Krieges sagten Militärexperten bereits kurz nach dem ursprünglich gescheiterten Angriff vorher, dass die Wahrscheinlichkeiten einer russischen Eroberung des gesamten Landes ebenso wie ein Rückdrängen der russischen Truppen durch die Ukraine äußerst gering ausfielen. Es hieß, der kriegerische Konflikt könne nur durch Verhandlungen gelöst werden.

Vor Kurzem scheinen daher einige von Trump eingeleitete Lösungsansätze etwas Hoffnungen zu wecken: Unabhängig davon, ob die Waffen vor einem verhandelten „Deal“ schweigen oder erst danach, ist nach aktuellem Stand vorauszusehen, dass Russland de facto eroberte Gebiete behalten und vielleicht eine Absage zur Mitgliedschaft der Ukraine in die Nato erhalten wird. Momentan lehnen Wolodymyr Selenskyj und europäische Regierungen diesen einseitigen Plan ab, denn er bestätige die „Macht des Stärkeren“. Obwohl diese Kritik berechtigt ist, beweist sie, dass seitens Europa moralische Empörung vor Realismus und Pragmatismus gestellt wird. Die aktuelle Situation wird nicht zielführend vom Ende her gedacht, denn Putin wird sich freiwillig nicht vollkommen zurückziehen wollen. Die Fortsetzung des Krieges durch europäische Unterstützung beruht somit auf der spekulativen Erwartung, das Ruder mit vereinten Kräften herumreißen zu  können, um einen gerechten „Frieden durch Stärke“ in der Ukraine zu erzwingen. Erfreulich, wie dieses optimistische Ergebnis wäre, birgt der notwendige Einsatz dafür ein Risiko. Sollte das wünschenswerte Szenario ausbleiben, würde die weitere Militärunterstützung gegenteilige Auswirkungen zur Folge haben. Eine Fortführung des Kriegsgeschehens könne die Zerstörung der Ukraine nicht aufhalten und würde das Leid der Soldaten und Bevölkerung verlängern.

Zusammenfassend bergen aktuelle Verhandlungslösungen des Konflikts ein moralisches Dilemma: Gerechtigkeit versus Einhalt des Tötens. Zur Handhabe dieser Zwangslage bedarf es in erster Linie nüchterner Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Wie lange kann Putin die russischen Angriffe wirtschaftlich und militärisch weiterführen, wenn demnächst eine Lösung ausbleibt? Wie funktionsfähig und verlässlich ist die Koalition der Willigen in Europa? Wie lange ist Europa bereit, mit militärischer Unterstützung der Ukraine das Risiko einzugehen, den zerstörerischen Krieg zu verlängern und gegebenenfalls zu eskalieren? Wäre ein nachhaltiger „Interessensausgleich“ möglich? Ist Präsident Trump in der Lage, eine Einigung zu erzielen, auch wenn sie wegen Landverlusten der Ukraine ungerecht ausfällt, im Rahmen einer Einigung jedoch die Angriffe stoppt? Sicherheitsgarantien stellen für die Ukraine eine notwendige Bedingung für die Lösung des Konflikts dar und werfen die Frage auf, in welchem Ausmaß Europa diese Aufgabe übernehmen könnte. Um den Bogen weiter zu spannen, wie weit sind die europäischen Regierungen willens und bereit, sich auf der Weltbühne einer nachhaltigen Diplomatie der Kooperation und Konfliktbeseitigung mit dem globalen Süden zu verschreiben, die langfristig ausgerichtet ist und geopolitische Realitäten berücksichtigt? Da sich aktuell die deutsche Politik und Medienlandschaft fast ausschließlich aus moralischen Gründen auf die Aggression Putins konzentriert, erscheint es umso wichtiger, realistische und lösungsorientierte Debatten über seine Strategien zu führen. In letzter Instanz geht es nicht nur um die Ukraine, sondern allgemein um die zukünftige Rolle Europas in einer zunehmend multipolaren und konfrontativen Welt.

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Pazifismus: Positionen gegen Militarismus

Staatswesen, July 11, 2023

Mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine ergeben sich zwangsläufig Fragen zur Beschaffenheit und Relevanz einer pazifistischen Denkweise im Gegensatz zu einer militaristischen. Im Folgenden soll erörtert werden, warum es sich bei dieser Gegenüberstellung von Sicherheitskonzepten um deutlich unterschiedliche Positionen handelt, wobei Überschneidungen und Annäherungen nicht ausgeschlossen sind. Um auf diesen Sachverhalt einzugehen, erscheint es hilfreich, zuerst mit einer knappen Definition und Einordnung der Begriffe des „Kriegs“ und „Friedens“ zu beginnen.

Krieg und Frieden

Nach Angaben des Dudens ist Krieg ein „mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, Völkern; größere militärische Auseinandersetzung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.“ Er fordert stets menschliche Opfer, verursacht Zerstörung der Lebensgrundlagen und mündet meist in Trauma, Vertreibung und Flucht. Obwohl die knappe Beschreibung eine konzeptionelle Grundlage für Debatten bildet, greift sie insofern zu kurz, als Kriege unterschiedliche Formen und Ursachen aufweisen. Zunächst finden kriegerische Einsätze nicht nur zwischen Staaten statt, sondern beziehen sich gelegentlich auf gewalttätige Konflikte in Form von nationalen Bürgerkriegen. Hier spielen oft separatistische Bestrebungen eine Rolle. Darüber hinaus können Kriege auf konventionelle, atomare und asymmetrische Weise mit dem Einsatz von Partisanen oder Guerillas geführt werden. Neben wirtschaftsbezogenen Blockaden und Sanktionen werden neuerdings auch Cyberangriffe als Form der Kriegsführung bezeichnet. Kriege verfügen über einen wichtigen Aspekt: Sie sind ein weltweites und universelles Phänomen. Es gibt kaum einen Kontinent, in dem nicht Kriege mit Brutalität und Verletzung der Menschrechte geführt wurden und noch heute geführt werden.

Bei den ursächlichen Motiven für kriegerische Einsätze ist zwischen Angriff und Verteidigung oder Befreiung zu unterscheiden. Angriffskriege basieren in der Regel auf fragwürdigen Machtansprüchen mit religiösen oder ideologischen Wertvorstellungen sowie auf persönlichen Egoismen, Animositäten und Phantasien geopolitischer Vormachtstellung. Dabei spielen meist auch wirtschaftliche Faktoren, Kampf um Ressourcen und Eigentumskonflikte eine Rolle. Oft wird ein kriegerischer Angriff mit dem Argument gerechtfertigt, es handle sich um einen notwendigen Präventivschlag, um Bedrohungen abzuwenden. Internationale Kriege und Kriegsbeteiligungen werden grundsätzlich von staatlichen Entscheidungsträgern und nicht vom Volk beschlossen, egal, ob sie von Demokraten oder Diktatoren begonnen werden. Schon Erasmus von Rotterdam behauptete 1517: „Ein sachliches Erwägen der Kriegsursachen wird erweisen, dass alle Kriege zum Vorteil der Fürsten vom Zaun gebrochen und stets zum Nachteil des Volkes geführt wurden, da ja das Volk nicht im geringsten daran interessiert war.“

Angriffskriege sind in der Regel völkerrechtswidrig. Der 1919 gegründete Völkerbund und insbesondere der Pariser Briand-Kellogg-Pakt legten im Jahr 1928 den Grundstein für den Ausbau des Völkerrechts und eine entsprechend internationale Ächtung des Angriffskriegs. Umgekehrt erlaubt das Kriegsrecht einem angegriffenen Staat, sich zu wehren und zu verteidigen. Er darf somit völkerrechtlich einen Verteidigungskrieg führen.

Die Definition des Friedens ist um einiges überschaubarer und somit beschreibt der Duden ihn als einen „ Zustand des inner- oder zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit“. Es handelt sich folglich um einen ideellen Sollzustand, dessen Realisierung nicht zwangsläufig gewährleistet werden kann und deswegen stets anzustreben ist. Die aktive Vermeidung von Krieg zugunsten eines weltweiten Friedens lässt sich als Friedenspolitik bezeichnen. Dieser politische Aspekt ist von Bedeutung, denn er ordnet kriegerische Konflikte in ein Dreistufenmodell ein. Jeder Krieg verfügt über eine Entwicklungsphase, den Ausbruch und nach Beendigung der Gewalt eine Phase der Bewältigung, des Wiederaufbaus und einer politischen Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Im Folgenden werden wir uns nur auf die ersten beiden Phasen konzentrieren.

Warum ist dieses Dreistufenmodell für einen Vergleich zwischen den Konzepten des Pazifismus und Militarismus von Bedeutung? Um darauf näher einzugehen, ist es zuerst notwendig, beide Begriffe zu skizzieren. Bei der Beschreibung muss jedoch darauf geachtet werden, dass sie sowohl mit individuellen und persönlichen, als auch mit institutionellen Positionen und Verhaltensmustern zu tun haben. Wertvorstellungen betreffen sowohl den Einzelnen als auch Organisationen.

Pazifismus und Militarismus

Beginnen wir mit den Charakteristiken des Pazifismus. Er teilt sich in zwei Kategorien ein, sodass vereinfacht zwischen dem radikalen Pazifismus und einer gemäßigten Form unterschieden werden kann, die sich als moderater Pazifismus bezeichnen lässt. Die ex-treme oder radikale Form beschreibt eine Haltung des vollkommenen Gewaltverzichts und einer kategorischen Ablehnung, sich an kriegerischen Konflikten zu beteiligen. Auf individueller Ebene bedeutet „gewaltfrei leben“, aus Gewissensgründen oder religiösen Motiven andere Menschen nicht verletzen und töten zu wollen. Diese gesinnungsethische Position entspricht einem internationalen Menschenrecht, das den Akt der Kriegsdienstverweigerung zulässt. Zu den bekanntesten Radikalpazifisten zählt wohl Jesus, der sich mit seinem damals neuen Glaubensbekenntnis gegen alle Formen der Gewaltausübung aussprach. Seit dem 20. Jahrhundert gehören die Friedensnobelpreisträger Bertha von Suttner (1905), Martin Luther King (1964), Desmond Tutu (1984) und Nelson Mandela (1993) zu dieser Kategorie, aber auch Mahatma Gandhi sowie die engagierten Künstler Kurt Tucholsky und John Lennon.

Da nur politische Staatsorgane internationale Kriege anzetteln, können staatskritische Positionen, wie die des Franzosen Pierre-Joseph Proudhon oder des Russen Leo Tolstoi herangezogen werden, um daraus die Form eines anarchistischen Pazifismus abzuleiten. Neben persönlichen Motiven des Pazifismus lassen sich auf institutioneller Ebene diverse Friedensgesellschaften nennen, die sich militaristischen Strömungen widersetzen und sich aktiv gegen Gewalt und Krieg engagieren. Dazu zählt die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstverweigerInnen (DFG-VK), ursprünglich als DFG in 1892 gegründet. In Großbritannien entspricht die Peace Pledge Union, gegründet 1934, mit ihrer Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einer vergleichbaren radikalen Friedensgesellschaft. Beide Institutionen sind Mitglieder der Organisation War Resisters´ International (WRI).

Angelehnt an Konzepte des Pazifismus sind einige Staaten bereit, unabhängige Positionen hinsichtlich internationaler Kriegsführung einzunehmen. In Europa gehören dazu Irland, Österreich und die Schweiz. Schweden und Finnland sind gerade dabei, ihre Neutralität zugunsten ihres Beitritts der NATO aufzugeben. Trotz des geringen Risikos eines kriegerischen Überfalls bietet die staatliche Neutralität den Vorteil, von potentiellen Konfliktparteien nicht als Gegner oder Bedrohung eingestuft zu werden. Sie vertreten eine Sicherheitspolitik, die sich von den fragwürdigen Prozessen des militärischen Wettrüstens abwendet. Auf Grund der unparteiischen Haltung und entsprechenden Glaubwürdigkeit werden neutrale Staaten oft herangezogen, um als unparteiliche Vermittler in internationalen Konflikten aufzutreten. Einige Staaten gehen sogar einen Schritt weiter, indem sie sich kein Militär zulegen und auch über keine externe Schutzmacht verfügen. Zu diesen Ländern zählen Costa Rica, Lichtenstein, Mauritius und Panama.

Während sich der radikale Pazifismus mit dem Primat der Gewaltlosigkeit einer moralischen oder gesinnungsethischen Haltung verschreibt, lässt der moderate Pazifismus gegebenenfalls Ausnahmen zu. Seine differenzierte Position, nicht jeden Kriegseinsatz grundsätzlich zu verurteilen, ist eng mit der Person des Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell (1950) verbunden. Er setzte sich aktiv für eine effektive Friedenspolitik ein, doch gleichzeitig rechtfertigte er als Ausnahmefall den militärischen Widerstand der Alliierten gegen das Deutsche Naziregime. Mit der Gründung der britischen Organisation Campaign for Nuclear Disarmament (CND) schaffte Russell gemeinsam mit dem „Committee of 100“ nicht nur das weltweit anerkannte Friedenszeichen, sondern prägte auch den Begriff eines relativen Pazifismus. Damit verdeutlichte er, dass neben dem ethisch geleiteten Pazifismus, eine Form möglich ist, die sich an vernunftgeleiteten und sachlichen Argumenten ausrichtet. Der Philosoph Olaf Müller1 spricht diesbezüglich von einem pragmatischen Pazifismus. Obwohl der Begriff des Pragmatismus generell mit Besonnenheit, Lösungsorientierung und gutem Krisenmanagement assoziiert wird, ist die Formulierung im Kontext des Pazifismus nicht ganz treffend. Mit seiner Konzentration auf aktuelle Gegebenheiten vermeidet der Pragmatiker, sich mit ideellen Fragen der Zukunftsgestaltung zu befassen. Im schlimmsten Fall verursacht er dadurch die Probleme und Krisen, die er dann, wenn sie eintreten, auf angemessene Weise versucht zu lösen.

Hinsichtlich des Militarismus lautet zunächst die Definition des Dudens: „Vorherrschen militärischen Denkens in der Politik und Beherrschung des zivilen Lebens in einem Staat durch militärische Institutionen“. Wir haben es also mit ausgeprägten Denkmustern der Politik zu tun, die autoritäre Züge des Gehorsams und hierarchischer Entscheidungsstrukturen aufweisen. Militarismus basiert auf Konkurrenzdenken und den Vorstellungen einer machtbesessenen oder ideologischen Überlegenheit. Er beruht weitgehend auf einem pessimistischen und abwertenden Menschenbild potentieller Gegner, die es in lokalen oder geopolitischen Konflikten des Kräftemessens zu schlagen, übertreffen oder missionieren gilt. In diesen konfrontativen Denkmustern spielt der „Kollateralschaden“ in Form von Opfern und Zerstörung keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Auch beim Militarismus muss zwischen radikalen und gemäßigten Prägungen differenziert werden. Das Gesamtkonzept der Kriegslogik, in der Krieg unausweichlich ist und permanente Maßnahmen erfordert, gilt jedoch für beide Formen, also auch für den moderaten und weniger aggressiven Militaristen.

Aus der Vorstellung, Gewaltbereitschaft und Krieg entspräche einem durch Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Naturgesetz, folgt die Notwendigkeit, sich mit militärischen Maßnahmen der Abschreckung abzusichern. Das entsprechende Motto lautet: “Mit Waffen Frieden schaffen“. Diese Haltung entspricht der tragischen Dynamik eines sozialen Dilemmas: Obwohl Politiker und Staatsoberhäupter meist keinen Krieg anstreben, folgen sie dem vermeintlichen Gebot, sich verteidigen zu müssen. Dabei tritt jedoch das Problem unterschiedlicher Wahrnehmungen auf: Inwiefern dienen militärische Mittel einer Verteidigung gegen Angriffe und in welchem Maße können sie umgekehrt als Bedrohung oder Eskalation existierender Konflikte gedeutet werden? Besonders das Konzept, der Angriff sei die beste Form der Prävention und Verteidigung, kann neben militärischer Absicherung gleichzeitig dazu führen, kriegerische Eingriffe zu rechtfertigen. Das Ergebnis ist ein Wettrüsten, das stets auf dem Streben nach militärischen Vorteilen und einem entsprechenden Gleichziehen beruht. Da auf Grund der Verteidigungslogik Kriege ausbrechen können, entspricht diese Dynamik dem Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein extremes Beispiel dafür bietet die militärische Strategie der atomaren Abschreckung, genannt „Mutually Assured Destruction“ (MAD), einer gegenseitig zugesicherten Zerstörung, die bezeichnenderweise aus dem Englischen mit „Verrückt“ übersetzt wird. Hier besteht die Hauptgefahr, dass im Zeitalter atomarer Aufrüstung und kalter Kriegsrhetorik militärische Angriffe durch Irrtum oder Zufall ausgelöst werden. Wie der Vorfall des russischen Offiziers Stanislaw Petrov im Jahr 1983 verdeutlichte, verhinderte nur seine Befehlsverweigerung, auf einen vermeintlichen NATO-Angriff mit dem entsprechendem Gegenschlag zu reagieren, einen Nuklearkrieg, der ungewollt große Teile der Menschheit ausgelöscht hätte.

Friedenspolitk

Um den Vergleich zwischen Pazifismus und Militarismus zu konkretisieren, ist es dienlich, die zwei wesentlichen Aspekte des bereits erwähnten Dreistufenmodells heranzuziehen. Beginnen wir mit dem Aspekt der Entstehung eines kriegerischen Konflikts. Eine wichtige Charakteristik des Pazifismus besteht darin, dass viel Wert auf das Konzept der Ursachen und Wirkung gelegt wird. Das Hervorheben der Ursachen für das Entstehen von Angriffsriegen ist insofern bedeutsam, als sich dabei meist eine Fülle von Gründen nennen lässt. Diese können die Form „eigener Interessen“ einnehmen, etwa in Form von egoistischem Machtstreben oder eines kolonialen Anspruchs auf knappe Ressourcen. Andererseits werden Angriffe durch diplomatisches Scheitern in Form verbaler Demütigung, fehlender Wertschätzung oder gebrochener Versprechen verursacht. So wurde der Angriffskrieg in der Ukraine von russischer Seite nicht nur aus opportunistischen Machtmotiven begonnen, sondern Wladimir Putin rechtfertigt ihn mit einer gefühlten Bedrohung seitens der NATO. Ähnliche Argumente kennen wir von Angriffskriegen, die von den USA ausgingen.

Mit dem Fokus auf vielschichtige Ursachen internationaler Konflikte zeigt sich ein wichtiges Merkmal der Menschen mit pazifistischer Perspektive: Sie schenken weit mehr Aufmerksamkeit der Wahrung diplomatischer Beziehungen und der Konfliktvermeidung als diejenigen Personen, die sich an militaristischen Konzepten mit dogmatischer Einstellung ausrichten. Die Diplomatie beruht im Wesentlichen auf den Grundlagen der Toleranz gegenüber Positionen Andersdenkender, was nicht mit Akzeptanz verwechselt werden darf. Diplomaten mit moderat-pazifistischer Disposition pflegen daher auf internationaler Ebene eine zivilisierte Gesprächskultur auf Augenhöhe. Formen der Rhetorik, basierend auf öffentlichen Drohungen, Beleidigungen und moralischen Forderungen, dienen dagegen der Provokation. Sie konterkarieren ernsthafte Versuche einer konstruktiven und friedlichen Zusammenarbeit. Diese Form der vernunftbezogenen oder verantwortungsethischen Diplomatie wird im Gegensatz zur wertegeleiteten oder gesinnungsethischen Variante generell als Realpolitik bezeichnet. Obwohl sie oft schwierig umzusetzen ist, verspricht sie langfristig mehr Stabilität und Frieden als ideologische Schlagabtausche. Beispiele einer rationalen Friedenspolitik lieferten die Ostpolitik des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt (1971) und die Gesprächsbereitschaft des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in 1972 mit dem ideologischen Gegenspieler Leonid Breschnew der UDSSR und dem chinesischen Staatschef Mao Zedong. Derartige Maßnahmen der Diplomatie wären sinnlos, wenn die Ursachen für Kriege ausschließlich bei egoistischen Motiven der Staatshäupter lägen. Viele Kriege ergeben sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Interessen und der Unfähigkeit, diese mit den friedlichen Mitteln der Diplomatie in Einklang zu bringen.

Verteidigung ohne Angriffswaffen

Die Ursachen für Kriegsausbrüche mögen beim menschlichen Versagen der Politik liegen, doch ohne militärisches Gerät wären Kriege nicht möglich. Um das Engagement moderater Pazifisten zugunsten der Vermeidung von kriegerischen Konflikten zu beschreiben, sollen zwei Nobelpreisträger hervorgehoben werden, die sich dieses Arguments annahmen. Der britische Diplomat und Chairman des ehemaligen Völkerbunds von 1932 bis 1934, Arthur Henderson (1934), bemühte sich gemeinsam mit seinem Kollegen Philip Noel-Baker (1959), internationale Einigung über eine weltweite Verteidigungspolitik herbeizuführen, die keine Angriffswaffen zulässt. Die pazifistische oder antimilitaristische Logik lautete damals, dass ohne Angriffswaffen in Form von Panzern, Flugzeugen und Schiffen ein internationaler Kriegsausbruch nicht mehr möglich sei, sodass langfristig auch Defensivwaffen kaum mehr gebraucht würden und die freigewordenen Finanzmittel für soziale und ökologische Maßnahmen zur Verfügung stünden. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Die militaristische Denklogik setzte sich durch und daher wurden weder Zweiter Weltkrieg noch die vielen Kriege danach verhindert. Dieser Sachverhalt wirft nun die kritische Frage auf, warum die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbunds nach 1945 die diplomatischen Anstrengungen für eine international verhandelte Verteidigungspolitik nicht wieder aufgriffen und verwirklichten.

Kriegsplanung

Mit der Ausrichtung auf die Vermeidung von Kriegen bedienen sich moderate Pazifisten der wissenschaftlichen Methoden, um Ungewissheiten, diverse Risikoszenarien und die potentiellen Konsequenzen der Kriegsführung auszuwerten. Umgekehrt befassen sich Militaristen mit möglichen Kriegsszenarien, wobei das Hauptmotiv beim siegreichen Ausgang liegt und weniger oder gar nicht beim daraus entstehenden Schaden. Sowohl Pazifisten, als auch Militaristen bedienen sich Abwägungstechniken der Kosten-Nutzen-Analyse, der eine jedoch, um auf das zu erwartende Leid hinzuweisen, während der andere sie für seine Kriegsplanung einsetzt. Geht im letzteren Fall etwas schief, lautet der englische Spruch oft: „It wasn’t wargamed for“. Der negative Verlauf und seine Folgen waren nicht eingeplant. Ein Beispiel der Neuzeit liefert das Scheitern des russischen Angriffs auf Kiew in 2022. Einen ähnlich gescheiterten Ausgang bietet der Angriff der amerikanischen Truppen zur Beseitigung des Diktators Saddam Hussein im Zweiten Irakkrieg 2003. Daraufhin versank das Land im Chaos, es bildete sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) und auf Grund der entstandenen Gewaltspirale werden seitdem bis über eine Million Zivilopfer in Irak und Syrien geschätzt. Zwei wichtige Aspekte werden in der Kriegsplanung allzu häufig ignoriert: die kulturellen Besonderheiten der Angegriffenen und das psychologische Phänomen der Verrohung und der entsprechenden Inkaufnahme willkürlicher Gewalt. Nicht nur die Massenmorde der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Massaker  von Mỹ Lai in Vietnam und im ukrainischen Butscha, die Kriegsverbrechen in Srebrenica oder die Gräueltaten im irakischen Gefängnis Abu-Ghuraib belegen, dass in Kriegseinsätzen exzessives und völkerrechtswidriges Foltern und Töten nicht auszuschließen ist. Der Militarist mag diesen Sachverhalt zwar beklagen, seine gewaltbereite Logik bedeutet jedoch, dass derartige Kriegsrechtverstöße zur weltweiten Praxis gehören und sich ohne einen Bruch mit der Logik nicht verhindern lassen.

Da der gemäßigte Pazifist sämtliche Zukunftsszenarien mit deren Vor- und Nachteilen in seine Beurteilung eines Kriegsgeschehens einbezieht, prägte der Friedensnobelpreisträger Norman Angell (1933) den Begriff eines rationalen Pazifismus. Der Philosoph Olaf Müller spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit, sich ausgiebig mit den sogenannten „Wenn-Dann-Sätzen“ auseinanderzusetzen. Der Verweis auf eine rationale Herangehensweise in Bezug auf Friedens- und Kriegspolitik entspricht weitgehend dem bereits genannten Konzept der Verantwortungsethik, das Max Weber2 dem vermeintlich tugendhaften Berufspolitiker zuordnet. Die Realität lässt jedoch den ausnahmslos positiven Charakter des Volksvertreters nicht zu und verweist somit auf die Möglichkeiten widersprüchlicher und irrationaler Verhaltensmuster der Politik. Gerne erheben wertegeleitete Politiker den moralischen Finger, ohne sich selbstreflexiv zu fragen, ob auch sie den geforderten Ansprüchen der Vernunft und Moral gerecht werden.

Reaktion auf Kriegsausbruch

Nachdem einige Aspekte der Entstehungsphase und Kriegsplanung skizziert wurden, stellt sich die Frage, was geschieht, wenn ein Angriffskrieg tatsächlich ausbricht. Hier sei zu unterscheiden, ob der Angriff das eigene Land oder ein fremdes betrifft. In beiden Fällen beschert es dem Pazifisten ein Dilemma. Wird sein Land angegriffen, muss er sich entscheiden, mit Waffen den Feind abzuwehren oder sich als Kriegsdienstverweiger aus Gefechten fernzuhalten. Der radikale Pazifist plädiert konsequent dafür, nicht zu kämpfen und sich dem Angreifer nur mit passivem Widerstand zur Wehr zu setzen. Beim moderaten Pazifisten bleibt die Frage offen, da für ihn Mitmachen oder Verweigerung zur Gewissensfrage wird und er letztlich eine der beiden Möglichkeiten wählen kann. Wenn dagegen ein fremdes Land völkerrechtswidrig angegriffen wird, stellt sich für Pazifisten die kritische Frage, ob sie einer militärischen Unterstützung des Angegriffenen zustimmen. Der radikale Pazifist wird die Frage mit einem kategorischen Nein beantworten, während der moderate Pazifist zögert und argumentiert, eine militärische Unterstützung könne den Kriegsverlauf eskalieren und verlängern. Der pflichtbewusste und gehorsame Militarist zeigt in beiden Szenarien geringere Skrupel, denn seine Logik besagt, der rechtswidrige Angriff muss in jedem Falle mit einer entsprechenden Verteidigung zurückgewiesen werden, „koste es was es wolle“.

Bei seinen Erwägungen, einen angegriffenen Staat zu unterstützen, ist sich der Pazifist zwar über dessen prekäre Lage bewusst, in seinen Abwägungen achtet er jedoch auch auf dessen Staatsform und Menschenrechtslage. Es ist aus politischen und ideologischen Gründen einfacher, eine demokratische Regierung mit Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen als einen Diktator. Da sich der gemäßigte Pazifist weniger emotionalen und gesinnungsethischen Gefühlen hingibt, sondern versucht, auf nüchterne Weise die Ausgangslage zu verstehen, hadert er und macht sich die Entscheidung zugunsten einer Unterstützung des Angegriffenen schwer. Trotz des Unrechts, wägt er ab, wie gut die Chancen stehen, den Angreifer zurückzuschlagen. Er fragt sich, wie die entsprechende Zerstörung ausfällt, wenn der Krieg durch die militärische Unterstützung verlängert wird. Wie immer seine Entscheidung in dieser Zwangslage ausfällt, er empfindet sie immer als unbefriedigend, denn es handelt sich um ein moralisches Dilemma von Tragweite: Unrecht und politische Freiheitsberaubung stehen dem Überleben, der körperlichen Unversehrtheit und Freiheitverlust durch Elend gegenüber. Wie Bertrand Russell argumentierte, kann der rationale Pazifist nach längerem Überlegen eine Entscheidung fällen, die mit der Position des Militaristen übereinstimmt. Für Letzteren fällt die Antwort relativ leicht: Er wählt aus emotional-moralischen Gründen und auf dogmatischer Basis der Kriegslogik den kriegerischen Einsatz, um Recht und politische Freiheit für den Angegriffenen zu sichern. Bei ihm kommen kaum Zweifel an seiner Entscheidung auf.

Trotz der Möglichkeit des moderaten Pazifisten, unter Umständen einem Verteidigungskrieg zuzustimmen, unterscheidet er sich vom Militaristen in zweierlei Hinsicht. Er stellt erstens das Kriegsgeschehen in einen breiteren Kontext, der neben ethischen Erwägungen historische und geopolitische Aspekte berücksichtigt. Auf dieser Grundlage fordert er von neutralen Vermittlern, parallel zum Kriegsgeschehen für Dialog und Verhandlungen der Kriegsparteien zu sorgen. Der Militarist bezieht sich dagegen auf die einseitige Forderung an den Aggressor, sich zurückzuziehen. Damit überlässt er das Austarieren der Verhandlungsmöglichkeiten ausschließlich den Kriegsparteien und trägt somit womöglich dazu bei, dass sich der Kriegsverlauf länger hinzieht.

Der Militarismus zeichnet sich im Gegensatz zum moderaten Pazifismus dadurch aus, dass er Formen der Kontextualisierung ablehnt. Er greift aus gesinnungsethischen und dogmatischen Motiven in Kriegsgeschehen ein, ohne auf historische, kulturelle, landesinterne oder geopolitische Gegebenheiten zu achten. Daher ist er bereit, moralische Widersprüchlichkeiten in Kauf zu nehmen. Es mag berechtigt sein, sich über Unrecht und Gewalt anderer zu beschweren, doch wie steht es mit seiner eigenen Vergangenheit? Derjenige der unrechtmäßige Kriege führt, verliert in besonderem Maße an Glaubwürdigkeit, wenn er sich über vergleichbar rechtswidriges Verhalten anderer echauffiert. Er wird behaupten, die damaligen Situationen und Motive waren so anders, dass sie einen direkten Vergleich nicht zulassen. Die Geschichtsschreibung belegt jedoch, dass diese Argumentation fadenscheinig ist, denn egal, ob Feind oder Freund, die Verhaltensmuster der Kriegsführenden unterscheiden sich weltweit in ihrer Gewaltbereitschaft und Brutalität nur geringfügig.

Die internationale Reaktion und Einordnung von Angriffskriegen verläuft somit sehr unterschiedlich. Ethische Belange, geopolitische Faktoren und internationale Bündnisse bedeuten meist, dass völkerrechtswidrige Angriffe von Teilen der internationalen Gemeinschaft je nach Grad der Interessensbeziehung widersprüchlich gehandhabt werden. Trotz allgemeinem Unrecht und Leid wird zwischen einem vertretbaren Angriff und einem inakzeptablen unterschieden. Sowohl der amerikanische Angriffskrieg im Irak 2003, als auch der russische Angriff auf die Ukraine beruhten auf dem Ziel des Regime Change, einer Ablöse der existierenden Regierung mit Gewalt. Für Pazifisten entspricht jeder Angriffskrieg einem abzulehnenden Rechtsverstoß. Militaristen sind dagegen etwas vager. Für den Sturz eines Diktators sei daher ein rechtswidriger Angriffskrieg vertretbar. Für Militaristen gilt je nach Umstand das machiavellistische Motto, für das Streben nach Macht, geopolitischer Hegemonie oder zugunsten ideologischer Wertvorstellungen sei jedes Mittel erlaubt, unabhängig von Recht und Moral. Um die damit verknüpfte Heuchelei zu verdeutlichen, sei der durch vietnamesische Truppen erzwungene Regierungswechsel im Kambodscha in 1979 erwähnt. Nach längeren Grenzstreitereien vertrieben sie das durch die US-Bombar-dierung geschaffene Terror-Regime der Roten Khmer und installierten in Phnom Penh eine neue moderate Regierung unter Heng Samrin. Trotz des Massenmords eines Drittel der Bevölkerung durch die Roten Khmer, bekannt unter dem Begriff der „Killing Fields“, erkannten die westlichen Länder und Vereinten Nationen weiterhin Pol Pot und seine Roten Khmer Schergen bis 1989 als legitime Vertreter Kambodschas an.

Öffentlicher Diskurs

Abschließend sei auf einen kommunikativen Aspekt hingewiesen. Es ist deutlich häufiger der Pazifist, der die Feststellung macht, die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges. Die Tatsache, dass Kriegsparteien regelmäßig Halbwahrheiten oder gar Lügen über den Verlauf der Geschehnisse auf dem Schlachtfeld verbreiten, mag verständlich sein. Problematisch wird die Angelegenheit, wenn die Leitmedien und der seriöse Journalismus diese Informationsfragmente als faktische Gegebenheiten behandeln und daraufhin über zukünftige Weiterentwicklungen des Kriegsgeschehens spekulieren.  Der zweifelnde Pazifist nimmt in der Regel Abstand von dieser meist sensationsgetriebenen Berichterstattung und gesinnungsethischen Auseinandersetzung. In dieser Hinsicht grenzt er sich vom gängigen Gedankengut der Kriegslogik ab und bleibt mit seiner skeptischen und kritischen Haltung ein Außenseiter.

Literatur

1. Müller, Olaf (2022): „Pazifismus. Eine Verteidigung“, Reclam, 2022
2. Weber, Max (1919): „Politik als Beruf“, Reclam, 1992

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