Pazifismus: Positionen gegen Militarismus
Staatswesen, July 11, 2023
Mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine ergeben sich zwangsläufig Fragen zur Beschaffenheit und Relevanz einer pazifistischen Denkweise im Gegensatz zu einer militaristischen. Im Folgenden soll erörtert werden, warum es sich bei dieser Gegenüberstellung von Sicherheitskonzepten um deutlich unterschiedliche Positionen handelt, wobei Überschneidungen und Annäherungen nicht ausgeschlossen sind. Um auf diesen Sachverhalt einzugehen, erscheint es hilfreich, zuerst mit einer knappen Definition und Einordnung der Begriffe des „Kriegs“ und „Friedens“ zu beginnen.
Krieg und Frieden
Nach Angaben des Dudens ist Krieg ein „mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten, Völkern; größere militärische Auseinandersetzung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.“ Er fordert stets menschliche Opfer, verursacht Zerstörung der Lebensgrundlagen und mündet meist in Trauma, Vertreibung und Flucht. Obwohl die knappe Beschreibung eine konzeptionelle Grundlage für Debatten bildet, greift sie insofern zu kurz, als Kriege unterschiedliche Formen und Ursachen aufweisen. Zunächst finden kriegerische Einsätze nicht nur zwischen Staaten statt, sondern beziehen sich gelegentlich auf gewalttätige Konflikte in Form von nationalen Bürgerkriegen. Hier spielen oft separatistische Bestrebungen eine Rolle. Darüber hinaus können Kriege auf konventionelle, atomare und asymmetrische Weise mit dem Einsatz von Partisanen oder Guerillas geführt werden. Neben wirtschaftsbezogenen Blockaden und Sanktionen werden neuerdings auch Cyberangriffe als Form der Kriegsführung bezeichnet. Kriege verfügen über einen wichtigen Aspekt: Sie sind ein weltweites und universelles Phänomen. Es gibt kaum einen Kontinent, in dem nicht Kriege mit Brutalität und Verletzung der Menschrechte geführt wurden und noch heute geführt werden.
Bei den ursächlichen Motiven für kriegerische Einsätze ist zwischen Angriff und Verteidigung oder Befreiung zu unterscheiden. Angriffskriege basieren in der Regel auf fragwürdigen Machtansprüchen mit religiösen oder ideologischen Wertvorstellungen sowie auf persönlichen Egoismen, Animositäten und Phantasien geopolitischer Vormachtstellung. Dabei spielen meist auch wirtschaftliche Faktoren, Kampf um Ressourcen und Eigentumskonflikte eine Rolle. Oft wird ein kriegerischer Angriff mit dem Argument gerechtfertigt, es handle sich um einen notwendigen Präventivschlag, um Bedrohungen abzuwenden. Internationale Kriege und Kriegsbeteiligungen werden grundsätzlich von staatlichen Entscheidungsträgern und nicht vom Volk beschlossen, egal, ob sie von Demokraten oder Diktatoren begonnen werden. Schon Erasmus von Rotterdam behauptete 1517: „Ein sachliches Erwägen der Kriegsursachen wird erweisen, dass alle Kriege zum Vorteil der Fürsten vom Zaun gebrochen und stets zum Nachteil des Volkes geführt wurden, da ja das Volk nicht im geringsten daran interessiert war.“
Angriffskriege sind in der Regel völkerrechtswidrig. Der 1919 gegründete Völkerbund und insbesondere der Pariser Briand-Kellogg-Pakt legten im Jahr 1928 den Grundstein für den Ausbau des Völkerrechts und eine entsprechend internationale Ächtung des Angriffskriegs. Umgekehrt erlaubt das Kriegsrecht einem angegriffenen Staat, sich zu wehren und zu verteidigen. Er darf somit völkerrechtlich einen Verteidigungskrieg führen.
Die Definition des Friedens ist um einiges überschaubarer und somit beschreibt der Duden ihn als einen „ Zustand des inner- oder zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit“. Es handelt sich folglich um einen ideellen Sollzustand, dessen Realisierung nicht zwangsläufig gewährleistet werden kann und deswegen stets anzustreben ist. Die aktive Vermeidung von Krieg zugunsten eines weltweiten Friedens lässt sich als Friedenspolitik bezeichnen. Dieser politische Aspekt ist von Bedeutung, denn er ordnet kriegerische Konflikte in ein Dreistufenmodell ein. Jeder Krieg verfügt über eine Entwicklungsphase, den Ausbruch und nach Beendigung der Gewalt eine Phase der Bewältigung, des Wiederaufbaus und einer politischen Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Im Folgenden werden wir uns nur auf die ersten beiden Phasen konzentrieren.
Warum ist dieses Dreistufenmodell für einen Vergleich zwischen den Konzepten des Pazifismus und Militarismus von Bedeutung? Um darauf näher einzugehen, ist es zuerst notwendig, beide Begriffe zu skizzieren. Bei der Beschreibung muss jedoch darauf geachtet werden, dass sie sowohl mit individuellen und persönlichen, als auch mit institutionellen Positionen und Verhaltensmustern zu tun haben. Wertvorstellungen betreffen sowohl den Einzelnen als auch Organisationen.
Pazifismus und Militarismus
Beginnen wir mit den Charakteristiken des Pazifismus. Er teilt sich in zwei Kategorien ein, sodass vereinfacht zwischen dem radikalen Pazifismus und einer gemäßigten Form unterschieden werden kann, die sich als moderater Pazifismus bezeichnen lässt. Die ex-treme oder radikale Form beschreibt eine Haltung des vollkommenen Gewaltverzichts und einer kategorischen Ablehnung, sich an kriegerischen Konflikten zu beteiligen. Auf individueller Ebene bedeutet „gewaltfrei leben“, aus Gewissensgründen oder religiösen Motiven andere Menschen nicht verletzen und töten zu wollen. Diese gesinnungsethische Position entspricht einem internationalen Menschenrecht, das den Akt der Kriegsdienstverweigerung zulässt. Zu den bekanntesten Radikalpazifisten zählt wohl Jesus, der sich mit seinem damals neuen Glaubensbekenntnis gegen alle Formen der Gewaltausübung aussprach. Seit dem 20. Jahrhundert gehören die Friedensnobelpreisträger Bertha von Suttner (1905), Martin Luther King (1964), Desmond Tutu (1984) und Nelson Mandela (1993) zu dieser Kategorie, aber auch Mahatma Gandhi sowie die engagierten Künstler Kurt Tucholsky und John Lennon.
Da nur politische Staatsorgane internationale Kriege anzetteln, können staatskritische Positionen, wie die des Franzosen Pierre-Joseph Proudhon oder des Russen Leo Tolstoi herangezogen werden, um daraus die Form eines anarchistischen Pazifismus abzuleiten. Neben persönlichen Motiven des Pazifismus lassen sich auf institutioneller Ebene diverse Friedensgesellschaften nennen, die sich militaristischen Strömungen widersetzen und sich aktiv gegen Gewalt und Krieg engagieren. Dazu zählt die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstverweigerInnen (DFG-VK), ursprünglich als DFG in 1892 gegründet. In Großbritannien entspricht die Peace Pledge Union, gegründet 1934, mit ihrer Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einer vergleichbaren radikalen Friedensgesellschaft. Beide Institutionen sind Mitglieder der Organisation War Resisters´ International (WRI).
Angelehnt an Konzepte des Pazifismus sind einige Staaten bereit, unabhängige Positionen hinsichtlich internationaler Kriegsführung einzunehmen. In Europa gehören dazu Irland, Österreich und die Schweiz. Schweden und Finnland sind gerade dabei, ihre Neutralität zugunsten ihres Beitritts der NATO aufzugeben. Trotz des geringen Risikos eines kriegerischen Überfalls bietet die staatliche Neutralität den Vorteil, von potentiellen Konfliktparteien nicht als Gegner oder Bedrohung eingestuft zu werden. Sie vertreten eine Sicherheitspolitik, die sich von den fragwürdigen Prozessen des militärischen Wettrüstens abwendet. Auf Grund der unparteiischen Haltung und entsprechenden Glaubwürdigkeit werden neutrale Staaten oft herangezogen, um als unparteiliche Vermittler in internationalen Konflikten aufzutreten. Einige Staaten gehen sogar einen Schritt weiter, indem sie sich kein Militär zulegen und auch über keine externe Schutzmacht verfügen. Zu diesen Ländern zählen Costa Rica, Lichtenstein, Mauritius und Panama.
Während sich der radikale Pazifismus mit dem Primat der Gewaltlosigkeit einer moralischen oder gesinnungsethischen Haltung verschreibt, lässt der moderate Pazifismus gegebenenfalls Ausnahmen zu. Seine differenzierte Position, nicht jeden Kriegseinsatz grundsätzlich zu verurteilen, ist eng mit der Person des Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell (1950) verbunden. Er setzte sich aktiv für eine effektive Friedenspolitik ein, doch gleichzeitig rechtfertigte er als Ausnahmefall den militärischen Widerstand der Alliierten gegen das Deutsche Naziregime. Mit der Gründung der britischen Organisation Campaign for Nuclear Disarmament (CND) schaffte Russell gemeinsam mit dem „Committee of 100“ nicht nur das weltweit anerkannte Friedenszeichen, sondern prägte auch den Begriff eines relativen Pazifismus. Damit verdeutlichte er, dass neben dem ethisch geleiteten Pazifismus, eine Form möglich ist, die sich an vernunftgeleiteten und sachlichen Argumenten ausrichtet. Der Philosoph Olaf Müller1 spricht diesbezüglich von einem pragmatischen Pazifismus. Obwohl der Begriff des Pragmatismus generell mit Besonnenheit, Lösungsorientierung und gutem Krisenmanagement assoziiert wird, ist die Formulierung im Kontext des Pazifismus nicht ganz treffend. Mit seiner Konzentration auf aktuelle Gegebenheiten vermeidet der Pragmatiker, sich mit ideellen Fragen der Zukunftsgestaltung zu befassen. Im schlimmsten Fall verursacht er dadurch die Probleme und Krisen, die er dann, wenn sie eintreten, auf angemessene Weise versucht zu lösen.
Hinsichtlich des Militarismus lautet zunächst die Definition des Dudens: „Vorherrschen militärischen Denkens in der Politik und Beherrschung des zivilen Lebens in einem Staat durch militärische Institutionen“. Wir haben es also mit ausgeprägten Denkmustern der Politik zu tun, die autoritäre Züge des Gehorsams und hierarchischer Entscheidungsstrukturen aufweisen. Militarismus basiert auf Konkurrenzdenken und den Vorstellungen einer machtbesessenen oder ideologischen Überlegenheit. Er beruht weitgehend auf einem pessimistischen und abwertenden Menschenbild potentieller Gegner, die es in lokalen oder geopolitischen Konflikten des Kräftemessens zu schlagen, übertreffen oder missionieren gilt. In diesen konfrontativen Denkmustern spielt der „Kollateralschaden“ in Form von Opfern und Zerstörung keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Auch beim Militarismus muss zwischen radikalen und gemäßigten Prägungen differenziert werden. Das Gesamtkonzept der Kriegslogik, in der Krieg unausweichlich ist und permanente Maßnahmen erfordert, gilt jedoch für beide Formen, also auch für den moderaten und weniger aggressiven Militaristen.
Aus der Vorstellung, Gewaltbereitschaft und Krieg entspräche einem durch Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Naturgesetz, folgt die Notwendigkeit, sich mit militärischen Maßnahmen der Abschreckung abzusichern. Das entsprechende Motto lautet: “Mit Waffen Frieden schaffen“. Diese Haltung entspricht der tragischen Dynamik eines sozialen Dilemmas: Obwohl Politiker und Staatsoberhäupter meist keinen Krieg anstreben, folgen sie dem vermeintlichen Gebot, sich verteidigen zu müssen. Dabei tritt jedoch das Problem unterschiedlicher Wahrnehmungen auf: Inwiefern dienen militärische Mittel einer Verteidigung gegen Angriffe und in welchem Maße können sie umgekehrt als Bedrohung oder Eskalation existierender Konflikte gedeutet werden? Besonders das Konzept, der Angriff sei die beste Form der Prävention und Verteidigung, kann neben militärischer Absicherung gleichzeitig dazu führen, kriegerische Eingriffe zu rechtfertigen. Das Ergebnis ist ein Wettrüsten, das stets auf dem Streben nach militärischen Vorteilen und einem entsprechenden Gleichziehen beruht. Da auf Grund der Verteidigungslogik Kriege ausbrechen können, entspricht diese Dynamik dem Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein extremes Beispiel dafür bietet die militärische Strategie der atomaren Abschreckung, genannt „Mutually Assured Destruction“ (MAD), einer gegenseitig zugesicherten Zerstörung, die bezeichnenderweise aus dem Englischen mit „Verrückt“ übersetzt wird. Hier besteht die Hauptgefahr, dass im Zeitalter atomarer Aufrüstung und kalter Kriegsrhetorik militärische Angriffe durch Irrtum oder Zufall ausgelöst werden. Wie der Vorfall des russischen Offiziers Stanislaw Petrov im Jahr 1983 verdeutlichte, verhinderte nur seine Befehlsverweigerung, auf einen vermeintlichen NATO-Angriff mit dem entsprechendem Gegenschlag zu reagieren, einen Nuklearkrieg, der ungewollt große Teile der Menschheit ausgelöscht hätte.
Friedenspolitk
Um den Vergleich zwischen Pazifismus und Militarismus zu konkretisieren, ist es dienlich, die zwei wesentlichen Aspekte des bereits erwähnten Dreistufenmodells heranzuziehen. Beginnen wir mit dem Aspekt der Entstehung eines kriegerischen Konflikts. Eine wichtige Charakteristik des Pazifismus besteht darin, dass viel Wert auf das Konzept der Ursachen und Wirkung gelegt wird. Das Hervorheben der Ursachen für das Entstehen von Angriffsriegen ist insofern bedeutsam, als sich dabei meist eine Fülle von Gründen nennen lässt. Diese können die Form „eigener Interessen“ einnehmen, etwa in Form von egoistischem Machtstreben oder eines kolonialen Anspruchs auf knappe Ressourcen. Andererseits werden Angriffe durch diplomatisches Scheitern in Form verbaler Demütigung, fehlender Wertschätzung oder gebrochener Versprechen verursacht. So wurde der Angriffskrieg in der Ukraine von russischer Seite nicht nur aus opportunistischen Machtmotiven begonnen, sondern Wladimir Putin rechtfertigt ihn mit einer gefühlten Bedrohung seitens der NATO. Ähnliche Argumente kennen wir von Angriffskriegen, die von den USA ausgingen.
Mit dem Fokus auf vielschichtige Ursachen internationaler Konflikte zeigt sich ein wichtiges Merkmal der Menschen mit pazifistischer Perspektive: Sie schenken weit mehr Aufmerksamkeit der Wahrung diplomatischer Beziehungen und der Konfliktvermeidung als diejenigen Personen, die sich an militaristischen Konzepten mit dogmatischer Einstellung ausrichten. Die Diplomatie beruht im Wesentlichen auf den Grundlagen der Toleranz gegenüber Positionen Andersdenkender, was nicht mit Akzeptanz verwechselt werden darf. Diplomaten mit moderat-pazifistischer Disposition pflegen daher auf internationaler Ebene eine zivilisierte Gesprächskultur auf Augenhöhe. Formen der Rhetorik, basierend auf öffentlichen Drohungen, Beleidigungen und moralischen Forderungen, dienen dagegen der Provokation. Sie konterkarieren ernsthafte Versuche einer konstruktiven und friedlichen Zusammenarbeit. Diese Form der vernunftbezogenen oder verantwortungsethischen Diplomatie wird im Gegensatz zur wertegeleiteten oder gesinnungsethischen Variante generell als Realpolitik bezeichnet. Obwohl sie oft schwierig umzusetzen ist, verspricht sie langfristig mehr Stabilität und Frieden als ideologische Schlagabtausche. Beispiele einer rationalen Friedenspolitik lieferten die Ostpolitik des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt (1971) und die Gesprächsbereitschaft des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in 1972 mit dem ideologischen Gegenspieler Leonid Breschnew der UDSSR und dem chinesischen Staatschef Mao Zedong. Derartige Maßnahmen der Diplomatie wären sinnlos, wenn die Ursachen für Kriege ausschließlich bei egoistischen Motiven der Staatshäupter lägen. Viele Kriege ergeben sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Interessen und der Unfähigkeit, diese mit den friedlichen Mitteln der Diplomatie in Einklang zu bringen.
Verteidigung ohne Angriffswaffen
Die Ursachen für Kriegsausbrüche mögen beim menschlichen Versagen der Politik liegen, doch ohne militärisches Gerät wären Kriege nicht möglich. Um das Engagement moderater Pazifisten zugunsten der Vermeidung von kriegerischen Konflikten zu beschreiben, sollen zwei Nobelpreisträger hervorgehoben werden, die sich dieses Arguments annahmen. Der britische Diplomat und Chairman des ehemaligen Völkerbunds von 1932 bis 1934, Arthur Henderson (1934), bemühte sich gemeinsam mit seinem Kollegen Philip Noel-Baker (1959), internationale Einigung über eine weltweite Verteidigungspolitik herbeizuführen, die keine Angriffswaffen zulässt. Die pazifistische oder antimilitaristische Logik lautete damals, dass ohne Angriffswaffen in Form von Panzern, Flugzeugen und Schiffen ein internationaler Kriegsausbruch nicht mehr möglich sei, sodass langfristig auch Defensivwaffen kaum mehr gebraucht würden und die freigewordenen Finanzmittel für soziale und ökologische Maßnahmen zur Verfügung stünden. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Die militaristische Denklogik setzte sich durch und daher wurden weder Zweiter Weltkrieg noch die vielen Kriege danach verhindert. Dieser Sachverhalt wirft nun die kritische Frage auf, warum die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbunds nach 1945 die diplomatischen Anstrengungen für eine international verhandelte Verteidigungspolitik nicht wieder aufgriffen und verwirklichten.
Kriegsplanung
Mit der Ausrichtung auf die Vermeidung von Kriegen bedienen sich moderate Pazifisten der wissenschaftlichen Methoden, um Ungewissheiten, diverse Risikoszenarien und die potentiellen Konsequenzen der Kriegsführung auszuwerten. Umgekehrt befassen sich Militaristen mit möglichen Kriegsszenarien, wobei das Hauptmotiv beim siegreichen Ausgang liegt und weniger oder gar nicht beim daraus entstehenden Schaden. Sowohl Pazifisten, als auch Militaristen bedienen sich Abwägungstechniken der Kosten-Nutzen-Analyse, der eine jedoch, um auf das zu erwartende Leid hinzuweisen, während der andere sie für seine Kriegsplanung einsetzt. Geht im letzteren Fall etwas schief, lautet der englische Spruch oft: „It wasn’t wargamed for“. Der negative Verlauf und seine Folgen waren nicht eingeplant. Ein Beispiel der Neuzeit liefert das Scheitern des russischen Angriffs auf Kiew in 2022. Einen ähnlich gescheiterten Ausgang bietet der Angriff der amerikanischen Truppen zur Beseitigung des Diktators Saddam Hussein im Zweiten Irakkrieg 2003. Daraufhin versank das Land im Chaos, es bildete sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) und auf Grund der entstandenen Gewaltspirale werden seitdem bis über eine Million Zivilopfer in Irak und Syrien geschätzt. Zwei wichtige Aspekte werden in der Kriegsplanung allzu häufig ignoriert: die kulturellen Besonderheiten der Angegriffenen und das psychologische Phänomen der Verrohung und der entsprechenden Inkaufnahme willkürlicher Gewalt. Nicht nur die Massenmorde der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Massaker von Mỹ Lai in Vietnam und im ukrainischen Butscha, die Kriegsverbrechen in Srebrenica oder die Gräueltaten im irakischen Gefängnis Abu-Ghuraib belegen, dass in Kriegseinsätzen exzessives und völkerrechtswidriges Foltern und Töten nicht auszuschließen ist. Der Militarist mag diesen Sachverhalt zwar beklagen, seine gewaltbereite Logik bedeutet jedoch, dass derartige Kriegsrechtverstöße zur weltweiten Praxis gehören und sich ohne einen Bruch mit der Logik nicht verhindern lassen.
Da der gemäßigte Pazifist sämtliche Zukunftsszenarien mit deren Vor- und Nachteilen in seine Beurteilung eines Kriegsgeschehens einbezieht, prägte der Friedensnobelpreisträger Norman Angell (1933) den Begriff eines rationalen Pazifismus. Der Philosoph Olaf Müller spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit, sich ausgiebig mit den sogenannten „Wenn-Dann-Sätzen“ auseinanderzusetzen. Der Verweis auf eine rationale Herangehensweise in Bezug auf Friedens- und Kriegspolitik entspricht weitgehend dem bereits genannten Konzept der Verantwortungsethik, das Max Weber2 dem vermeintlich tugendhaften Berufspolitiker zuordnet. Die Realität lässt jedoch den ausnahmslos positiven Charakter des Volksvertreters nicht zu und verweist somit auf die Möglichkeiten widersprüchlicher und irrationaler Verhaltensmuster der Politik. Gerne erheben wertegeleitete Politiker den moralischen Finger, ohne sich selbstreflexiv zu fragen, ob auch sie den geforderten Ansprüchen der Vernunft und Moral gerecht werden.
Reaktion auf Kriegsausbruch
Nachdem einige Aspekte der Entstehungsphase und Kriegsplanung skizziert wurden, stellt sich die Frage, was geschieht, wenn ein Angriffskrieg tatsächlich ausbricht. Hier sei zu unterscheiden, ob der Angriff das eigene Land oder ein fremdes betrifft. In beiden Fällen beschert es dem Pazifisten ein Dilemma. Wird sein Land angegriffen, muss er sich entscheiden, mit Waffen den Feind abzuwehren oder sich als Kriegsdienstverweiger aus Gefechten fernzuhalten. Der radikale Pazifist plädiert konsequent dafür, nicht zu kämpfen und sich dem Angreifer nur mit passivem Widerstand zur Wehr zu setzen. Beim moderaten Pazifisten bleibt die Frage offen, da für ihn Mitmachen oder Verweigerung zur Gewissensfrage wird und er letztlich eine der beiden Möglichkeiten wählen kann. Wenn dagegen ein fremdes Land völkerrechtswidrig angegriffen wird, stellt sich für Pazifisten die kritische Frage, ob sie einer militärischen Unterstützung des Angegriffenen zustimmen. Der radikale Pazifist wird die Frage mit einem kategorischen Nein beantworten, während der moderate Pazifist zögert und argumentiert, eine militärische Unterstützung könne den Kriegsverlauf eskalieren und verlängern. Der pflichtbewusste und gehorsame Militarist zeigt in beiden Szenarien geringere Skrupel, denn seine Logik besagt, der rechtswidrige Angriff muss in jedem Falle mit einer entsprechenden Verteidigung zurückgewiesen werden, „koste es was es wolle“.
Bei seinen Erwägungen, einen angegriffenen Staat zu unterstützen, ist sich der Pazifist zwar über dessen prekäre Lage bewusst, in seinen Abwägungen achtet er jedoch auch auf dessen Staatsform und Menschenrechtslage. Es ist aus politischen und ideologischen Gründen einfacher, eine demokratische Regierung mit Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen als einen Diktator. Da sich der gemäßigte Pazifist weniger emotionalen und gesinnungsethischen Gefühlen hingibt, sondern versucht, auf nüchterne Weise die Ausgangslage zu verstehen, hadert er und macht sich die Entscheidung zugunsten einer Unterstützung des Angegriffenen schwer. Trotz des Unrechts, wägt er ab, wie gut die Chancen stehen, den Angreifer zurückzuschlagen. Er fragt sich, wie die entsprechende Zerstörung ausfällt, wenn der Krieg durch die militärische Unterstützung verlängert wird. Wie immer seine Entscheidung in dieser Zwangslage ausfällt, er empfindet sie immer als unbefriedigend, denn es handelt sich um ein moralisches Dilemma von Tragweite: Unrecht und politische Freiheitsberaubung stehen dem Überleben, der körperlichen Unversehrtheit und Freiheitverlust durch Elend gegenüber. Wie Bertrand Russell argumentierte, kann der rationale Pazifist nach längerem Überlegen eine Entscheidung fällen, die mit der Position des Militaristen übereinstimmt. Für Letzteren fällt die Antwort relativ leicht: Er wählt aus emotional-moralischen Gründen und auf dogmatischer Basis der Kriegslogik den kriegerischen Einsatz, um Recht und politische Freiheit für den Angegriffenen zu sichern. Bei ihm kommen kaum Zweifel an seiner Entscheidung auf.
Trotz der Möglichkeit des moderaten Pazifisten, unter Umständen einem Verteidigungskrieg zuzustimmen, unterscheidet er sich vom Militaristen in zweierlei Hinsicht. Er stellt erstens das Kriegsgeschehen in einen breiteren Kontext, der neben ethischen Erwägungen historische und geopolitische Aspekte berücksichtigt. Auf dieser Grundlage fordert er von neutralen Vermittlern, parallel zum Kriegsgeschehen für Dialog und Verhandlungen der Kriegsparteien zu sorgen. Der Militarist bezieht sich dagegen auf die einseitige Forderung an den Aggressor, sich zurückzuziehen. Damit überlässt er das Austarieren der Verhandlungsmöglichkeiten ausschließlich den Kriegsparteien und trägt somit womöglich dazu bei, dass sich der Kriegsverlauf länger hinzieht.
Der Militarismus zeichnet sich im Gegensatz zum moderaten Pazifismus dadurch aus, dass er Formen der Kontextualisierung ablehnt. Er greift aus gesinnungsethischen und dogmatischen Motiven in Kriegsgeschehen ein, ohne auf historische, kulturelle, landesinterne oder geopolitische Gegebenheiten zu achten. Daher ist er bereit, moralische Widersprüchlichkeiten in Kauf zu nehmen. Es mag berechtigt sein, sich über Unrecht und Gewalt anderer zu beschweren, doch wie steht es mit seiner eigenen Vergangenheit? Derjenige der unrechtmäßige Kriege führt, verliert in besonderem Maße an Glaubwürdigkeit, wenn er sich über vergleichbar rechtswidriges Verhalten anderer echauffiert. Er wird behaupten, die damaligen Situationen und Motive waren so anders, dass sie einen direkten Vergleich nicht zulassen. Die Geschichtsschreibung belegt jedoch, dass diese Argumentation fadenscheinig ist, denn egal, ob Feind oder Freund, die Verhaltensmuster der Kriegsführenden unterscheiden sich weltweit in ihrer Gewaltbereitschaft und Brutalität nur geringfügig.
Die internationale Reaktion und Einordnung von Angriffskriegen verläuft somit sehr unterschiedlich. Ethische Belange, geopolitische Faktoren und internationale Bündnisse bedeuten meist, dass völkerrechtswidrige Angriffe von Teilen der internationalen Gemeinschaft je nach Grad der Interessensbeziehung widersprüchlich gehandhabt werden. Trotz allgemeinem Unrecht und Leid wird zwischen einem vertretbaren Angriff und einem inakzeptablen unterschieden. Sowohl der amerikanische Angriffskrieg im Irak 2003, als auch der russische Angriff auf die Ukraine beruhten auf dem Ziel des Regime Change, einer Ablöse der existierenden Regierung mit Gewalt. Für Pazifisten entspricht jeder Angriffskrieg einem abzulehnenden Rechtsverstoß. Militaristen sind dagegen etwas vager. Für den Sturz eines Diktators sei daher ein rechtswidriger Angriffskrieg vertretbar. Für Militaristen gilt je nach Umstand das machiavellistische Motto, für das Streben nach Macht, geopolitischer Hegemonie oder zugunsten ideologischer Wertvorstellungen sei jedes Mittel erlaubt, unabhängig von Recht und Moral. Um die damit verknüpfte Heuchelei zu verdeutlichen, sei der durch vietnamesische Truppen erzwungene Regierungswechsel im Kambodscha in 1979 erwähnt. Nach längeren Grenzstreitereien vertrieben sie das durch die US-Bombar-dierung geschaffene Terror-Regime der Roten Khmer und installierten in Phnom Penh eine neue moderate Regierung unter Heng Samrin. Trotz des Massenmords eines Drittel der Bevölkerung durch die Roten Khmer, bekannt unter dem Begriff der „Killing Fields“, erkannten die westlichen Länder und Vereinten Nationen weiterhin Pol Pot und seine Roten Khmer Schergen bis 1989 als legitime Vertreter Kambodschas an.
Öffentlicher Diskurs
Abschließend sei auf einen kommunikativen Aspekt hingewiesen. Es ist deutlich häufiger der Pazifist, der die Feststellung macht, die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges. Die Tatsache, dass Kriegsparteien regelmäßig Halbwahrheiten oder gar Lügen über den Verlauf der Geschehnisse auf dem Schlachtfeld verbreiten, mag verständlich sein. Problematisch wird die Angelegenheit, wenn die Leitmedien und der seriöse Journalismus diese Informationsfragmente als faktische Gegebenheiten behandeln und daraufhin über zukünftige Weiterentwicklungen des Kriegsgeschehens spekulieren. Der zweifelnde Pazifist nimmt in der Regel Abstand von dieser meist sensationsgetriebenen Berichterstattung und gesinnungsethischen Auseinandersetzung. In dieser Hinsicht grenzt er sich vom gängigen Gedankengut der Kriegslogik ab und bleibt mit seiner skeptischen und kritischen Haltung ein Außenseiter.
Literatur
1. Müller, Olaf (2022): „Pazifismus. Eine Verteidigung“, Reclam, 2022
2. Weber, Max (1919): „Politik als Beruf“, Reclam, 1992